Mieterfrust, Sommermärchen und Ampelmännchen: Der Wandel der Hauptstadt spiegelt sich auch im „Berliner Abendblatt“ wider. Begleiten Sie uns auf einer Zeitreise!
Als am 2. Oktober 1991 die erste Ausgabe des „Berliner Abendblatts“ erscheint, gleicht Berlin einem Wartezimmer. So beschrieb es der niederländische Schriftsteller Cees Noteboom. Eine Stadt zwischen gestern und morgen mit viel Platz für Utopien, Pläne und Hoffnungen. Brachen und Schneisen prägen Mitte nahe dem ehemaligen Mauerstreifen. Unendliche Weiten am verödeten Potsdamer Platz. An der Ecke Unter den Linden/Wilhelmstraße, wo später das Hotel Adlon wieder aufgebaut wird, wachsen Bäume.
Und doch ist der Aufbruch spürbar. Ende Juni fiel der Hauptstadtbeschluss: Regierung und Parlament ziehen wieder an die Spree. Diese Aussichten beflügeln Investoren, lösen aber auch Ängste aus, etwa vor steigenden Mieten – bis heute ein Thema. Das „Berliner Abendblatt“, damals im Verlagsgebäude an der Chausseestraße in Mitte zu Hause, ist Teil dieses Aufbruchs. Zunächst erscheint es in den östlichen Bezirken Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee, Mitte, Friedrichshain, Treptow, Köpenick, Lichtenberg, Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf.
Magische Anziehungskraft des Ostens
Schon damals stellt die Redaktion Themen in den Mittelpunkt, die die Menschen bewegen: Am 30. Oktober macht das junge Anzeigenblatt mit einer „Mietenaktion“ auf: Leser finden Infos zu Mieterhöhungen und Wohngeld. Um Wohnungssuchende und Vermieter „zusammenzubringen“, werden Kleinanzeigen zu Sonderpreisen veröffentlicht.
Turbulent bleiben auch die nächsten Jahre. Gerade die östlichen Innenstadtkieze entfalten eine nahezu magische Anziehungskraft für Junge und Kreative. Großereignisse tun ihr Übriges. Mitte der 1990er-Jahre begründet die Loveparade den Ruf Berlins als Partyhauptstadt.
Als im Sommer 1995 der Reichstag für zwei Wochen unter Stoffbahnen verschwindet, kommen rund fünf Millionen Besucher in die Stadt. Das „Berliner Abendblatt“, mittlerweile in der Grünberger Straße in Friedrichshain beheimatet, widmet sich der Frage, ob die Künstler Christo und Jeanne-Claude, die die Reichstagsverhüllung initiiert haben, zu Ehrenbürgern ernannt werden sollen. Die Mehrheit der Leser ist dagegen. Ansonsten dominieren derweil andere Themen das Blatt. Zum Beispiel die chronischen Staus in Köpenick: noch so ein Dauerbrenner!
Was die neue Hauptstadtrolle mit sich bringt
Im September 1999 ist es so weit: Berlin ist Sitz von Bundesregierung und Bundestag. Gut einen Monat zuvor fragt das „Berliner Abendblatt“: „Müssen Kleingärtner den Bonnern weichen?“ Der Beitrag befasst sich mit der geplanten Bebauung von Kleingärten in Karlshorst. Die Wohnungen sind für Bundesbedienstete vorgesehen.
Berlins Wandel zum politischen Zentrum des vereinten Deutschlands wird diese Zeitung auch weiterhin aus lokaler Perspektive beschäftigen. Damals wie heute nimmt die Redaktion die Sorgen und Fragen der Leser ernst, leistet zugleich aber auch Aufklärung. Ende September findet sich in der Ausgabe Mitte-Friedrichshain die Überschrift: „Auch Regierungsbeamte zahlen Knöllchen“. Sie bezieht sich auf die zunehmende Parkplatznot zwischen Museumsinsel und Brandenburger Tor. Zuvor machten Gerüchte über Privilegien zugunsten des Regierungsapparats die Runde.
Derlei Berichte spiegeln die „Vereinigungsschmerzen“ wider, die die Stadt an vielen Stellen plagen. Berlin wächst zusammen und erfindet sich neu. Das geht am „Berliner Abendblatt“ nicht spurlos vorbei. Seit 1996 erscheint es auch in den westlichen Bezirken Reinickendorf, Neukölln, Tempelhof, Spandau, Steglitz und Zehlendorf. Bis 2005 folgen Kiezausgaben für Schöneberg, Tiergarten, Charlottenburg, Kreuzberg und Wilmersdorf. Zu dieser Zeit hat der Berlin-Boom weiter Fahrt aufgenommen.
Auf dem Weg zur attraktiven Metropole
Die Fußball-WM im Jahr 2006 gibt ihm weiteren Schub. Das „Sommermärchen“ trägt entscheidend zum Image einer weltoffenen und lebenslustigen Metropole bei. Ein Mega-Ereignis, das auch das „Berliner Abendblatt“, seinerzeit im Haus des Berliner Verlags an der Karl-Liebknecht-Straße angesiedelt, in Atem hält. Sechs Wochen lang präsentiert es Infos und Service zur WM auf zwei Sonderseiten. Bestimmend bleiben aber (vermeintlich) kleine Themen, die einen Eindruck vom großen Ganzen in Berlin vermitteln. Dass im Sommer 2006 ein „Ost-Ampelmännchen“ in einer sanierten Ampel in Tegel aufleuchtet, ist der Redaktion eine Meldung auf der Titelseite wert.
Abwechslungsreich und mitunter skurril bleibt es auch in den Folgejahren. Der Berliner Alltag als ständiges Abenteuer: Seit 30 Jahren dürfen wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, dabei begleiten. Das macht uns stolz. Auf die nächsten 30 Jahre!
Text: Nils Michaelis, großes Bild: Stefan Bartylla