So viel Drama ist in der Bezirkspolitik selten. Im Januar wurde Emine Demirbüken-Wegner (CDU) im dritten Anlauf zur Stellvertretenden Bezirksbürgermeisterin und Stadträtin für Soziales und Bürgerdienste von Reinickendorf gewählt. Im Interview spricht sie über das verunglückte Titelbild einer CDU-Zeitschrift, tiefe Verletzungen sowie bessere Bürgerämter.

 

Berliner Abendblatt: Wenn man sich unter Bezirksverordneten nach Ihnen erkundigt, ist von Vertrauensverlust, aber auch von Vertrauensvorschuss die Rede, unter anderem durch Ihr Wirken als erste bezirkliche Integrationsbeauftragte mit türkischem Migrationshintergrund, seinerzeit in Tempelhof-Schöneberg. Wie gehen Sie mit dieser Gratwanderung um?

Emine Demirbüken-Wegner: Ich bin mir meiner Person und meiner Haltung gegenüber meiner Arbeit sicher. Ich habe Erfahrung auf vielen verschiedenen Gebieten. Daher habe ich keine Sorge, dass der Vertrauensvorschuss gefährdet sein sollte. Der Vertrauensverlust macht mich betroffen. Allerdings eher in umgekehrter Weise. Ich bin betroffen darüber, dass mir etwas unterstellt worden ist, was ich nicht bin. Ich finde den Begriff Vertrauensverlust schwierig, weil ich mich mit den Vorwürfen nicht identifiziere.

 

Der Vertrauensverlust bezieht sich auf den öffentlichen Streit um die von Ihnen verantwortete Titelseite Ihrer CDU-Ortsverbandszeitschrift. Dort zeigt eine Fotomontage, wie ein riesiger Hammer, der eine Modulare Unterkunft für Flüchtlinge (MUF) symbolisiert, das Paracelsus-Bad zerstört. Wie haben Sie die Zeit zwischen Ihrer Nominierung als Kandidatin und Ihrer Wahl ins Bezirksamt erlebt?

Um es auf den Punkt zu bringen: Ich habe mein Leben und mein gesellschaftliches wie politisches Engagement auf den Kopf gestellt gesehen. Diese unsägliche Debatte wirkt in meinem Kopf und in meiner Seele noch immer nach. Ich bin allerdings auch unendlich erstaunt, überrascht und dankbar, wie viel Unterstützung, Fürsprache und Einsatz meiner Person von einer breiten Öffentlichkeit zuteilwurde. Die nachhaltige Solidarität meiner Partei und meiner CDU-Bezirksamtskollegen ist in der Politik nicht immer selbstverständlich.

Ich war Integrationsbeauftragte und engagiere mich seit Jahren gegen Rassismus, unter anderem als Beiratsmitglied der Amadeu Antonio Stiftung. Ich wurde von Neonazis bedroht. Dass mir im Zusammenhang mit jener Titelseite Rassismus vorgeworfen wurde, ist ein absolutes No-Go.

 

Von 53 Bezirksverordneten haben nur 23 für Sie gestimmt, also fünf Verordnete mehr, als die CDU-Fraktion Mitglieder zählt. Wie wollen Sie in den kommenden Jahren den Rest von sich überzeugen?

Ich habe eine ganz bestimmte Einstellung zu meiner Arbeit und meinen Inhalten. Daran wird sich nichts ändern. Ich bin immer mit Fleiß, Engagement und Leidenschaft an meine Inhalte herangegangen. Mit diesem vollen Einsatz werde ich auch meine Arbeit im Bezirksamt tätigen.

 

War die besagte Fotomontage ein Fehler?

Das Titelbild steht für einen bestimmten Inhalt des Artikels in der Ortsteilzeitschrift. Dass dieser Inhalt vom Titelbild gelöst betrachtet wurde, war ein gravierender Fehler der Kritisierenden. Hätte man den Inhalt des Textes zur Kenntnis genommen, hätte man das Titelbild vielleicht anders bewertet. Das ist nicht geschehen. In der öffentlichen Debatte wurde aus dem Titelbild sogar ein Wahlkampfflyer. Das entspricht nicht den Tatsachen. Hätte ich geahnt, wie das Echo auf das Titelbild ausfällt, wäre ich die Allerletzte gewesen, die sich für eine derartige Gestaltung entscheidet.

 

Angesichts Ihrer politischen Erfahrung als ehemalige Staatssekretärin und Abgeordnete ist diese Panne erstaunlich.

Das hat etwas mit meinem Selbstverständnis zu tun. Ich bin eine Berlinerin und hier aufgewachsen. Ich betrachte die Dinge nicht aus der Sicht eines Opfers, sonders eines Bürgers von hier. Ich komme aus der Anti-Rassismus-Bewegung. Gerade deswegen ist es absurd, mit dem Titelbild mir Rassismus zu unterstellen. Dies entspricht nicht meiner Sichtweise. Aber, im Nachhinein betrachtet war dies Bild ein Fehler, weil es vom Wesentlichen abgelenkt hat.

Ich habe lediglich die Stimmung unter den Anwohnern zum Ausdruck gebracht. Die hatten zu mir gesagt: Dass der Senat über ihre Köpfe hinweg beschließt, eine MUF am Paracelsus-Bad zu errichten, sei wie ein Hammer, der auf sie niedergeht. Dieser Satz ist bei mir hängengeblieben. Später musste ich sehen, welche Wirkung er erzeugt.

Es ging niemals darum, die MUF an sich, sondern den Standort am Paracelsus-Bad zu verhindern. Von Anfang an habe ich alternative Standorte, zum Beispiel das ehemalige Hotel Mercure am Flughafen Tegel, vorgeschlagen. Übrigens liegen all diese Alternativstandorte in meinem damaligen Wahlkreis.

„Stimmung unter den Anwohnern zum Ausdruck gebracht“

 

Wer war für die Gestaltung der Titelseite direkt verantwortlich?

Diese Ortsverbandszeitschrift wird von einem Team erstellt. Ich als Vorsitzende des Ortsverbandes Reinickendorf-West bin die Verantwortliche. Was die Inhalte der besagten Ausgabe zur MUF am Paracelsus-Bad betrifft: Diese Linie finden sie auch bei anderen Parteien. Auch die SPD ist gegen diesen Standort.

 

Emine Demirbüken-Wegner sagt: "Ich kann Verwaltung."
Emine Demirbüken-Wegner sagt: „Es ist schön, wieder in der Exekutive zu sein.“ Bild: Nils Michaelis

 

Sie haben wiederholt gesagt, eine MUF am Paracelsus-Bad würde die soziale Schieflage in den umliegenden Kiezen verfestigen oder verstärken. Ist das nicht diskriminierend gegenüber Geflüchteten?

Ich finde es bemerkenswert, dass es diskriminierend sein soll, Defizite zu benennen. Dieser Standort liegt zwischen zwei Quartiersmanagementgebieten. Dort gibt es viele soziale Probleme. Ich kenne die Anwohnerschaft und die Siedlungsgemeinschaft. Auch mit dem Kleingartenvorstand führe ich intensive Gespräche.

All das hat uns als CDU zu der Erkenntnis gebracht, dass dieser Bereich für eine MUF unglücklich gewählt ist und wir über andere Bereiche reden müssen. Es war und ist mein Auftrag, auf Missstände hinzuweisen. Mich dafür in eine bestimmte Ecke zu stellen, ist diffamierend. Als damalige Abgeordnete habe ich mich als Sprachrohr der Anwohner verstanden und daher ihre Sorgen und Nöte kommuniziert.

 

Bei der Kandidatenkür fürs Bezirksamt gab es einen Gegenkandidaten für das Ordnungsamt, auch rund um die verzögerte Wahl der CDU-Stadtratskandidaten rumorte es in der CDU. Wie ist der Zustand der Partei nach diesen Chaostagen?

Ich habe ein gutes Gefühl und einen guten Eindruck. Dass es in den eigenen Reihen Gegenkandidaten gibt, ist ein Zeichen der Stärke und der Vielfalt der CDU-Reinickendorf.  Vielfalt macht eine Partei innovativ und lebendig. Wir sind froh, dass wir uns jetzt endlich auf unsere Arbeit konzentrieren und für Reinickendorf wirken können. Brüche werden von außen gerne gesehen, doch die CDU hält unterschiedliche Meinungen gut aus. Sorgen sollte man sich machen, wenn es bei uns in allen Dingen 100 Prozent Einigkeit geben würde.

 

Die Querelen im Vorfeld der Bezirksamtswahl haben der CDU-Reinickendorf weit über den Bezirk hinaus Aufmerksamkeit beschert. Ein Vorteil?

Das müssen andere beurteilen. Es war nie unsere Absicht, mit diesen Dingen an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir wollen durch unsere Inhalte, Ideen und Konzepte wahrgenommen werden. Dass es im Zuge meiner Kandidatur drei Wahltermine gegeben hat, ist bedauerlich. Jetzt schauen wir nach vorne.

„Ich kann Verwaltung“

 

In der Bezirksverordnetenversammlung haben Sie in Ihrer Kandidatinnenrede sinngemäß erklärt, die Menschen im Bezirk zusammenführen zu wollen. Was genau ist damit gemeint? Was haben Sie vor?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Individualismus als hohes Gut angesehen wird. Dennoch sind wir auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, miteinander die Herausforderungen der Zeit zu bewältigen. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie führen uns dies überdeutlich vor Augen. Ich war die letzten fünf Jahre im Parlament unter anderem Sprecherin für Bürgerschaftliches Engagement.

Die Zivilgesellschaft zusammenzuführen, die Menschen über gefühlte Grenzen hinweg zu verbinden, Alt und Jung oder wohlhabend und arm zusammenzubringen, das spornt mich an. Viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden an ihrer Einsamkeit. Hier will ich als Sozialdezernentin ansetzen. Hierfür bringe ich aus meiner bisherigen politischen Vita ein großes Maß an externem Expertenwissen mit. Das werde ich in und für den Bezirk und seine Menschen einsetzen. Ich komme aus der Exekutive. Ich weiß, wie man in einem Kollegialorgan arbeitet und wie man sich dort verhält. Und es ist schön, wieder in der Exekutive zu sein. Ich kann Verwaltung, da muss sich niemand Sorgen machen.

 

Eigentlich sah Ihr Karriereplan anders aus: Sie wollten wieder ins Abgeordnetenhaus einziehen, scheiterten aber bei der Wahl. Was hat Sie in die Bezirkspolitik gezogen?

Meine Partei kam auf mich zu und machte klar, dass ich weitermachen soll. Ich finde das sehr ehrenhaft.

 

Bei der nächsten Bezirkswahl im Jahr 2026 werden Sie 65 Jahre alt sein. Falls Sie Bezirksbürgermeisterin werden wollen, bräuchten Sie gemäß der dienstrechtlichen Höchstaltergrenze eine Ausnahmegenehmigung, um das Amt auszuüben.

Ich gehe nicht davon aus, dass ich jenseits der 65 als Bezirksbürgermeisterin von Reinickendorf tätig sein werde.

„Ich werde für alle Menschen im Bezirk da sein“

 

Mit welcher Agenda starten Sie in Ihr neues Amt als Stadträtin? Gibt es ein 100-Tage-Programm?

Von den 100 Tagen „Startbonus“ sind durch die Personaldebatte um mich bereits mehr als die Hälfte vergangen. Nein, es gibt kein 100-Tage-Programm. Aber es gibt ein 4-3/4-Jahre-Programm: Stellvertretende Bezirksbürgermeisterin zu sein heißt, für alle Menschen im Bezirk da zu sein, für alle Belange, für alle Sorgen, für alle Perspektiven. Nicht alles wird erfüllt werden können. Ich glaube aber, dass alle sechs Bezirksamtskolleginnen und -kollegen sich in diesem Sinne und gemeinschaftlich richtig ins Zeug legen werden.

 

Sie haben Verwaltung als Ihre „Genetik“ bezeichnet. Was können die Menschen beim Thema Verwaltungsdienstleistungen und Bürgerämter von Ihnen erwarten?

Berlinweit haben die Bürgerinnen und Bürger kein Verständnis für ewige Wartezeiten, unzureichende Erreichbarkeiten und mangelnde Modernität in der Abwicklung von Verwaltungsabläufen. Der neue Berliner Senat hat sich hier viel vorgenommen. Wir als Bezirk sind davon abhängig, wie viel Personal, technische Ausstattung und finanzielle Unterlegung uns vom Berliner Parlament als Haushaltsgesetzgeber gegeben werden wird.

Bei mir werden zwei Prämissen gelten. Erstens: Nicht der Bürger, sondern die Akte wandert. Die Digitalisierung muss so weit voranschreiten, dass wenige Klicks und ein Sachbearbeiter genügen, damit ein Dokument zum Kunden kommt. Und zweitens: Geht nicht gibt’s nicht!

 

Sie zeigen auf den Senat. Was wollen Sie als frisch gewählte Stadträtin aus eigener Kraft erreichen?

Ich bin seit wenigen Wochen im Amt und habe mir zunächst einen Überblick verschafft. Bei den Bürgerämtern gibt es viel zu tun. Ich weiß genau, wie die Menschen darüber denken. Monat für Monat wird die Kundenzufriedenheit online abgefragt. In einigen Bereichen müssen wir uns nicht verstecken, zum Beispiel bei der Wartezeit in den Bürgerämtern. Die liegt im Schnitt bei rund 15 Minuten.

Eine große Herausforderung ist die Digitalisierung: Wie schaffen wir es, schneller zu werden und Strukturen zu verfestigen? An drei Standorten, nämlich im Rathaus Reinickendorf, Tegel und Reinickendorf Ost, können Kunden, die ihren Ausweis beantragen oder verlängern möchten, ihre Daten an einem Ausweisautomaten eingeben und mit einem Knopfdruck an die Sachbearbeiter schicken. Später werden sie nur noch hereingerufen, um ihre Dokumente abzuholen.

Baustelle Bürgerämter: Die neue Stadträtin setzt sich für mehr digitale Dienstleistungen und ein angenehmeres Ambiente ein. Archivbild: IMAGO/Schöning

Jedoch wollen wir hier noch mehr Effizienz für die Verwaltung und Kosten Günstigkeit für den Bürger erreichen. Deshalb gehen wir als Partner der Bundesdruckerei, die an sieben Standorten Bundesweit, in Berlin nur in Reinickendorf mit Lichtbildferfassungsgeräten ab Mai 2022 in eine Testphase, um jetzt schon die ab 2025 gesetzlich verpflichtende Vorgabe, die Passbilder ausschließlich digital entgegenzunehmen, zu erfüllen. Wir starten zunächst in den Ortsteilen Heiligensee und Märkisches Viertel.

Darüber hinaus geht es aber auch um die Frage, inwiefern sich die Menschen im Bürgeramt willkommen fühlen. Dafür zählt eine freundliche Note, auch bei der Gestaltung der Räume. Am Standort Teichstraße lassen wir derzeit die Wände streichen. Wir brauchen aber auch mehr Technik und Personal. Dort fehlt es an allen Ecken und Enden.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hat die Digitalisierung der Verwaltung zur Chefinnensache erklärt. Ich hoffe sehr, dass die Reinickendorfer Bürgerämter davon profitieren werden. Das Image der Verwaltung muss besser werden. Die Menschen müssen sich auf Augenhöhe behandelt und mit ihren Bedarfen und Problemen wohl aufgehoben wissen. Freundlichkeit und Verständnis für die Bürger sind unser Markenzeichen sein.

„Um Integration geht es in jedem Bereich“

 

Die CDU-Fraktion macht sich in einem Antrag dafür stark, Schulanmeldungen zu digitalisieren. Wie stehen Sie dazu?

Das wäre eine gute flankierende Maßnahme. Alles, was uns das Leben auf digitalem Wege leichter macht, ist richtig und wichtig. Das Onlinezugangsgesetz sieht vor, dass die Digitalisierung der Verwaltung bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen ist. Ich weiß nicht, wie wir das schaffen sollen.

 

Sie sind auch für den Bereich Soziales zuständig. Die Linke fordert, einen jährlichen Kinderarmutsbericht herauszugeben. Was halten Sie davon?

So einen Bericht halte ich grundsätzlich für sinnvoll. Aus personellen Gründen ist er jährlich nicht machbar, wohl aber alle zwei bis drei Jahre. Die Frage ist, ob man so etwas nur als Kinderarmutsbericht sehen oder nicht lieber einen Familienarmutsbericht mit entsprechenden Untergruppen vorsehen sollte. Schließlich ist Kinderarmut auch Familien- oder Elternarmut. Das sollte man nicht trennen.

Bei diesem Thema gibt es Überschneidungen mit der Abteilung Jugend, Familie und Gesundheit. Bezirksstadtrat Alexander Ewers von der SPD hat auf diesem Gebiet viel vor. Wir werden uns zusammentun.

 

Welche Rolle spielt das Thema Integration in Ihrem neuen Amt?

Eine große Rolle. Ob in der Gesundheit, im Sozialen, im Sport oder in der Kultur: In jedem Bereich geht es um Integration. In jedem gesellschaftlichen Bereich muss dieses Thema in die Arbeit hineinimplementiert werden, auch in der Verwaltung. Sei es in Form von interkultureller Öffnung oder Mehrsprachigkeit. In Reinickendorf wurde hierbei schon viel erreicht. Integration ist keine Nischenpolitik, sondern Gesellschaftspolitik. Die Sensibilisierung dafür bringe ich in meine Arbeit ein.

 

Zur Person

Emine Demirbüken-Wegner wurde 1961 in der Türkei geboren. 1969 zog sie mit ihren Eltern nach West-Berlin. Von 2006 bis 2011 sowie von 2016 bis 2021 war sie Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Von Dezember 2011 bis Oktober 2016 war sie Staatssekretärin für Gesundheit in der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. Von 2004 bis 2016 gehörte Demirbüken-Wegner dem CDU-Bundesvorstand an. Mit ihrer Familie lebt sie im Bezirk Reinickendorf.

Interview und Bilder: Nils Michaelis