Seit September 2022 ist Stephan Bröchler Landeswahlleiter in Berlin.Bilder: Sascha Uhlig
Seit September 2022 ist Stephan Bröchler Landeswahlleiter in Berlin.Bilder: Sascha Uhlig

„Die vollständige Wiederholungswahl ist rechtlich und organisatorisch Neuland“, sagt Landeswahlleiter Stephan Bröchler. Im Interview spricht der Politikwissenschaftler über die Vorbereitungen für den Wahltag am 12. Februar, merkwürdige Wahlvorschläge auf Stimmzetteln und nötige Reformen.

 

Können Sie nachts noch ruhig schlafen?

Ich schlafe wie immer gut. Vor dem Wahltermin gibt es sehr viel tu tun und vorzubereiten. Häufig falle ich abends einfach ins Bett.

 

Der Erwartungsdruck seitens Politik und Bevölkerung ist riesig. Wie gehen Sie damit um?

Es gibt Druck. Die Berliner Landeswahlleitung steht unter besonderer Beobachtung. Die Erwartungen der Berliner sind hoch. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir die Wiederholungswahl in dieser Ausnahmesituation so gut wie möglich hinbekommen. Wahr ist aber auch: Wahlen und Wahlvorbereitungen funktionieren nie zu 100 Prozent fehlerfrei. Das haben mir andere Landeswahlleiter bestätigt.

 

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Wahlwiederholung stattfinden kann, haben Sie aufgeatmet. Die Prüfung der Verfassungsgemäßheit der erneuten Abstimmung wurde allerdings vertagt. Wie groß ist Ihre Befürchtung, dass am Ende auch diese Wahl kassiert wird?

Ich habe einen anderen Fokus. Für mich zählt, dass die Wiederholungswahl am 12. Februar stattfindet und wir mit Volldampf weitermachen können. Die Briefwahl läuft ja bereits seit Anfang Januar. Wie das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entscheiden wird, lässt sich nicht absehen. Ich appelliere an die Wählerinnen und Wähler, deswegen nicht in ihrer Motivation nachzulassen.

 

Sie haben die Wahlwiederholung als „Fest der Demokratie“ bezeichnet. Wollen Sie damit die Menschen motivieren, nach so kurzer Zeit schon wieder an die Urne zu gehen? Rechnen Sie mit einer geringeren Wahlbeteiligung?

Ich tue alles, damit die Wahlbeteiligung nicht sehr gering ausfällt. 2021 war sie mit gut 77 Prozent sehr hoch. Das lag an der Verbindung mit der Bundestagswahl. Ich bin skeptisch, dass wir diesen Wert erneut erreichen werden. Mein Wunsch sind 70 Prozent.

 

 


 

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Zur Wahlwiederholung gehört, dass auf manchen Stimmzetteln Kandidaten zu finden sind, die längst von der politischen Bühne abgetreten sind – so zum Beispiel Mittes früherer Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel -, oder die mittlerweile die Partei gewechselt haben. Könnte dies die Lust auf einen erneuten Urnengang mindern?

Das hoffe ich nicht. Weil es sich um eine vollständige Wiederholungswahl handelt, durften wir die Stimmzettel nur wenn unbedingt nötig verändern. Wir haben Änderungen vorgenommen, wenn Personen weggezogen oder verstorben sind. Um solchen Aufwand  künftig zu vermeiden, brauchen wir keine Wahlrechtsreform, sondern ordentlich organisierte und durchgeführte Wahlen, damit keine weitere Wiederholung mehr nötig sein wird. Die vollständige Wiederholungswahl ist rechtlich und organisatorisch Neuland.

 

Sie haben das Ziel ausgegeben, verloren gegangenes Vertrauen in die Demokratie zurückzugewinnen. Wie stark ist dieses Vertrauen erschüttert? 

Die gravierenden Organisationsfehler haben zu einem deutlichen  Vertrauensverlust geführt. Allein die Bilder von den langen Schlangen vor den Wahllokalen! Meine Frau und ich haben ebenfalls eineinhalb Stunden vor dem Wahllokal gewartet.

 

Was tun Sie, um das Vertrauen wieder zu kitten?

Als neuer Landeswahlleiter arbeite ich daran, die Mängel zu beheben, die sich innerhalb der festgesetzten Frist von 90 Tagen beheben lassen. Ich kann in dieser kurzen Zeit nicht überall neue Strukturen aufbauen. Zum Teil arbeiten wir in den Strukturen von 2021. Wir sind im Reparaturmodus.

Wir haben uns um eine verlässliche Druckerei und sortenrein sortierte Stimmzettel bemüht. Deren Anlieferung wird in den Bezirken kontrolliert. Es gibt mehr Wahlkabinen. Somit ließ sich mehr Zeit einplanen, um die Stimmzettel auszufüllen.

Auch für eine bessere Protokollierung der Wahlen wurden Maßnahmen ergriffen. Diesmal werden Wartezeiten und Schlangen festgehalten. Die Wahlvorstände umfassen 14 statt wie bislang neun Personen. Bei Bedarf lässt sich die Zahl der Wahlkabinen erhöhen. Das ist wie im Supermarkt, wenn eine neue Kasse aufgemacht wird. All das sind viele kleine Reformschritte, damit die Wahl nicht reibungslos, aber zumindest reibungsarm abläuft.

 

Keine reibungslose, sondern eine reibungsarme Wahl: Wie sollte der Wahltag ablaufen, damit Sie am Ende zufrieden sind?

Ich wünsche mir, dass all die großen und kleinen Verbesserungen am Wahltag greifen. Dass wir keine langen Schlangen haben. Dass es genügend Wahlkabinen gibt und die Berlinerinnen und Berliner dort ausreichend Zeit haben. Und dass nirgendwo falsche Stimmzettel kursieren. Wenn sich all das mit einer hohen Wahlbeteiligung verbindet, bin ich zufrieden. Das wäre ein guter Startpunkt für weitere Reformen.

 

„Ich werde wohl kaum zum Schlafen kommen“

 

Wie muss man sich die Arbeit eines Landeswahlleiters am Wahltag vorstellen?

Unsere Zeitschiene beginnt schon am Freitag. Am Sonntagmorgen werden meine Frau und ich in unserem Wahllokal in Pankow wählen gehen. Anschließend fahre ich zu unserer Geschäftsstelle in der Innenverwaltung. Dort beobachten wir den Verlauf der Wahlen. Um mir selbst ein Bild zu machen, plane ich, das eine oder andere Wahllokal zu besuchen. Abends geht es ins Landesamt für Statistik, um die Wahlergebnisse zu verfolgen. In der Nacht zu Montag werde ich wohl kaum zum Schlafen kommen.

 

Innensenatorin Iris Spranger (SPD) führt die Rechtsaufsicht über die Wahlen. Welche Erwartungen hat sie Ihnen gegenüber geäußert?

Die Innensenatorin wünscht sich natürlich wie wir alle funktionierende Wahlen. Ich bin ihr gegenüber nicht weisungsgebunden und agiere unabhängig. Darauf lege ich sehr großen Wert. Aus der Innenverwaltung kommt viel Unterstützung. Frau Spranger ist sehr engagiert.

Zweimal pro Woche gibt es einen Jour fixe mit Vertretern von Landeswahlleitung und Innenverwaltung. Dort wird über etwaige Probleme und den weiteren Verlauf gesprochen. Frau Spranger hat dafür gesorgt, dass das Personal der Geschäftsstelle der Landeswahlleitung aufgestockt wurde. Mit vier Personen haben wir angefangen. Jetzt sind es 13. Allerdings sind die zusätzlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur befristet bei uns tätig.

 

Was macht die Innensenatorin besser als ihr Amtsvorgänger Andreas Geisel, der die Wahlen vom September 2021 zu verantworten hatte?

Das kann und will ich nicht beurteilen. Damals war ich noch kein Landeswahlleiter. Festzuhalten bleibt, dass die damalige Landeswahlleiterin Dr. Petra Michaelis zurückgetreten ist.

 

Mehr Wahlkabinen, mehr Wahlhelfer und ein „doppeltes Sicherheitsnetz“ für Stimmzettel: Bei den Ressourcen haben Sie überall kräftig aufgestockt. Aber wie sicher ist dieses System gegenüber unvorhergesehenen Schwierigkeiten?

Wir versuchen, möglichst viele Unvorhersehbarkeiten vorher einzuplanen. Ein Beispiel: Was passiert, wenn es in einem Wahllokal zu wenig Stimmzettel geben sollte? Unsere Strategie sieht vor, dass die Bezirke aus ihrer Reserve nachliefern. Wenn dieses erste Sicherheitsnetz nicht funktioniert, greift das zweite: Dann werden die Wahllokale mit Stimmzetteln aus der Reserve des Lagezentrums in der Klosterstraße beliefert. Es wird eine Hotline geben.

Wir haben ein Fehlermanagement eingeführt: Jeder Hinweis aus der Bevölkerung wird überprüft. Jeder Fehler wird öffentlich kommuniziert. Wir sind sogar bemüht, uns auf Hackerangriffe vorzubereiten.

 

Landeswahlleiter Stephan Bröchler beim Interview mit Redakteur Nils Michaelis in der Geschäftsstelle der Landeswahlleitung. Bild: Sascha Uhlig
Landeswahlleiter Stephan Bröchler beim Interview mit Redakteur Nils Michaelis in der Geschäftsstelle der Landeswahlleitung. Bild: Sascha Uhlig

 

 

Erste Pannen gab es bereits. Zum Beispiel stand auf einem englischsprachigen Hinweiszettel für die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung ein falsches Datum. Hat Sie das ins Grübeln gebracht?

Grübeln reicht nicht. Das hat mich geärgert. Gemeinsam mit den Bezirken haben wir die Kontrollen der Stimmzettel verstärkt und Stichproben gemacht. Dabei sind keinerlei Probleme aufgetaucht. Die Bezirke haben sämtliche Stimmzettel ein weiteres Mal überprüft. Daher bin ich zuversichtlich, dass am Wahltag keine Probleme mit fehlerhaften Stimmzetteln auftreten werden.

 

Viele Wahlhelfer waren auch schon 2021 im Einsatz. Wie sorgen Sie dafür, dass sie diesmal einen besseren Job machen?

Es war nicht die die Arbeit der Wahlhelfer, die zu dem Wahldebakel geführt hat. Alle waren sehr engagiert und haben bisweilen bis spät in die Nacht gearbeitet. Viele waren am Ende sehr müde. Wir müssen die Wahlhelfer in Schulungen noch besser auf Stresssituationen vorbereiten. Damit haben wir angefangen. Allerdings konnten wir in 90 Tagen nicht das Schulungsmaterial grundlegend überarbeiten.

 

Wie werden Sie sicherstellen, dass niemand nach 18 Uhr wählt? Rechnen Sie mit kürzeren Schlangen?

Wir haben festgelegt, dass Wahlhelfer und Wahlvorstände den gesamten Wahltag lang schauen, wie sich die Situation vor den Wahllokalen entwickelt. Wenn nötig, werden zusätzliche Wahlkabinen aufgestellt. Wenn jemand um genau 18 Uhr vor dem Wahllokal steht, wird er zur Wahl zugelassen. Ihm oder ihr können und wollen wir das Wahlrecht nicht nehmen. Wer sich hingegen nach 18 Uhr noch anstellt, wird nicht mehr wählen dürfen.

 

 Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und den Bezirken bei den Wahlvorbereitungen? Wo wurden Verbesserungen erreicht?

Wir sind viel stärker im Gespräch. Es gibt einen intensiven Austausch. Jeden Montag hat die Geschäftsstelle eine Videoschalte mit allen Bezirkswahlämtern. Diesen Austausch brauchen wir, er muss aber noch besser werden. Die Bezirke sind die Kraftwerke der Wahl. Der Landeswahlleiter unterhält kein einziges Wahllokal. Für die Vorbereitung der Wahl arbeiten die Bezirke am Limit. Das zeigt sich an der Schließung von Bürgerämtern.

 

„Wir brauchen strukturelle Reformen“

 

Sie sprachen vom „Reparaturbetrieb“. Was muss passieren, um Wahlen in Berlin langfristig auf sichere Füße zu stellen?

Wir brauchen strukturelle Reformen. Als ehemaliges Mitglied der Expertenkommission Wahlen in Berlin habe ich eine klare Handlungsagenda.

Der Landeswahlleiter muss endlich Rechte bekommen und darf nicht länger ein König ohne Land sein. Nach dem Hamburger Vorbild braucht auch Berlin ein Landeswahlamt als strategisches Zentrum, wo alle Informationen zusammenlaufen. Hinzu kommen ständige Bezirkswahlämter. Das Landeswahlamt muss gestalten, eingreifen und gegensteuern können, wenn etwas schiefläuft. Das hat im September 2021 gefehlt. Als Landeswahlleiter trage ich die gesamte Verantwortung, habe aber keinerlei Instrumente. Das ist ein großes Problem.

Eine Wahl reicht weit über den Wahltag hinaus. Mit einem permanenten Landeswahlamt verbinde ich die Vorstellung, Wahlen als eine ständige Aufgabe zu begreifen. Das bedeutet auch, für diesen Bereich mehr festes Personal bereitzustellen. Dies gilt auch im Hinblick auf eine mögliche Wiederholung der Bundestagswahl noch in diesem und die Europawahl im kommenden Jahr.

Mir liegt es darüber hinaus sehr am Herzen, weitere Demokratieprojekte zum Laufen zu bringen, um mehr junge Menschen als Wahlhelfende und Wählende zu gewinnen.

 

Was hält die Innensenatorin von Ihren Reformideen?

Durch das Wahldesaster von 2021 ist der Druck auf die Politik enorm groß. Dadurch hat sich ein Reformfenster geöffnet. Bis dato ist die Unterstützung durch den gesamten Senat und die Parteien, auch in der Opposition, groß. Alle sagen sich: So ein Wahlchaos darf sich nicht wiederholen. Das war kein Betriebsunfall, ihm lagen Fehler im System zugrunde. Ich hoffe, dass dieser Reformwille nach dem 12. Februar nicht abebbt und wir dann richtig anfangen können.

 

 


 

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Sind Sie froh, dass es am 12. Februar nun doch keine Wahlbeobachter der OSZE gibt? Diese verbinden viele eher mit Krisengebieten.

Die Einladung an die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) fand auf meine Initiative hin statt. Wir haben 2021 Vertrauen verloren. Die Wahlbeobachtung durch eine externe Stelle hätte eine gute Möglichkeit sein können, die Wiederholungswahl zu begleiten. Bei Bundestagswahlen ist dies längst üblich.

Es kam anders. Vertreter der OSZE haben sich in Berlin umgeschaut und uns gesagt: Ihr schafft das! Die OSZE hat Vertrauen in unsere Wahlvorbereitungen. Das sehe ich als Gütesiegel. Es werden allerdings Wahlbeobachter des Europarates vor Ort sein. Auch das ist ein völlig alltäglicher Vorgang bei demokratischen Wahlen.

 


 

Zur Person:

Den Posten als Landeswahlleiter übt Stephan Bröchler ehrenamtlich aus. Seit Oktober 2020 ist er Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Der 1962 geborene Politikwissenschaftler war Mitglied der Expertenkommission zur Aufklärung der Unregelmäßigkeiten und Durchführungsprobleme der Landeswahl von 2021.

 


 

 

Das Interview führte Nils Michaelis