„Es gibt viel zu reparieren“, sagt Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch gut zwei Monate vor der Wiederholung der Berlin-Wahl. Im Interview erklärt die 54-Jährige, warum sie sich für die bessere Regierende Bürgermeisterin hält, was sie von einer Verwaltungsreform erwartet und wie es um die Mobilitätswende steht.
Berliner Abendblatt: Frau Jarasch, was war Ihr erster Gedanke, als feststand, dass die Wahlwiederholung kommt?
Bettina Jarasch: Ich musste erst mal tief Luft holen, weil mich diese Klarheit des Gerichts völlig überrascht hat. Natürlich ist eine Wahlwiederholung in diesem Krisenwinter nicht das, was die Menschen sich gewünscht haben. Viele Berlinerinnen und Berliner haben gerade andere Sorgen. Andererseits ist die Wahlwiederholung nach diesem Wahldesaster notwendig.
War da nicht auch Freude darüber, nun zum zweiten Sprung ins Rote Rathaus anzusetzen? In vielen Umfragen liegen die Grünen vorne.
Wir Grünen haben die Wiederholung der Wahl nicht herbeigerufen, und zwar ganz bewusst. Aber natürlich nutze ich die Chance, denn zu vieles funktioniert nicht mehr in Berlin. Nach mehr als 20 Jahren mit SPD-geführten Landesregierungen ist es Zeit für einen Wechsel. Eine neue Führung täte der Stadt gut. Es gibt viel zu reparieren.
Warum wären Sie eine bessere Regierende Bürgermeisterin als Franziska Giffey?
Bei einer Reihe von Themen hatte die SPD 21 Jahre Zeit. Nehmen wir die Bildungspolitik oder die „funktionierende Stadt“. Ich habe eine klare Präferenz für die Fortführung der jetzigen Koalition, aber unter Führung der Grünen. Es ist Zeit für einen Wechsel, weil wir mit neuer Kraft das angehen können, was die SPD seit vielen Jahren liegen lassen hat.
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Sie haben gesagt: Hätte es eine Verwaltungsreform gegeben, wäre das Wahlchaos ausgeblieben. Meinen Sie damit, Wahlvorbereitungen sollten künftig allein Sache des Senats sein?
Es braucht Klarheit darüber, wer wann und wo die Zuständigkeit hat. Genau die gab es nicht. Der damalige Innensenator Andreas Geisel von der SPD hat gesagt, er sei für die Organisation der Wahlen nicht zuständig gewesen, sondern habe nur die Aufsichtspflicht gehabt.
Unabhängig von der Frage, ob er die überhaupt ausgeübt hat: Es muss klar sein, wer für die Vorbereitung einer Wahl zuständig ist. Das wird bei dieser Wahlwiederholung nicht das Problem sein. Wir bereiten diese Wahl so gründlich vor wie keine zuvor. Es wird eine bessere Ausstattung mit Wahlhelfern, Kabinen und Stimmzetteln geben. Die Fehler der letzten Wahl dürfen sich nicht wiederholen. Den Weckruf hätte es aber nicht gebraucht. Und in Zukunft braucht es eine zentrale Zuständigkeit für Wahlen.
Wegen seines Agierens rund um die Pannenwahl musste Andreas Geisel von vielen Seiten heftige Kritik einstecken. Würde er einem neuen Senat unter Ihrer Führung weiter angehören?
Es ist eine Entscheidung der SPD, welche Konsequenzen sie aus der Pannenwahl zieht.
Ich hatte bis zur Ankündigung der Wahlwiederholung nicht den Eindruck, dass das Thema Verwaltungsreform für den Senat eine Priorität ist.
Stimmt. Im Koalitionsvertrag haben wir eine große Zuständigkeitsreform verabredet. Die hat die SPD liegenlassen. Das ist vielleicht das einzig Gute an der Wahlwiederholung: Jetzt ist der Druck für eine Verwaltungsreform da. Diese soll Klarheit schaffen, damit jeder weiß: Was ist der Job des Senats, des Bezirks oder einer Behörde? Das ist bis jetzt nicht angelaufen. Wir haben noch nicht mal einen Geschäftsverteilungsplan für den Senat verabschiedet, der die Zuständigkeiten innerhalb des Senats klärt.
Erste Eckpunkte einer Verwaltungsreform haben bereits die Runde gemacht. Zum Beispiel, dass die Bezirke an einigen Stellen Eigenständigkeit und damit Macht abgeben. Wie wollen Sie die Bezirke hierfür ins Boot holen?
Klarheit zu schaffen kann bedeuten, dass Bezirke an einigen Stellen Aufgaben abgeben oder aber auch neue bekommen. Es bedeutet nicht automatisch eine Entmachtung. Im Gegenteil. Wir müssen uns mit den Bezirken zusammen hinsetzen und die Zuständigkeiten genau klären. Das ist ein langer Prozess, allein mit einem großen Aufschlag ist es nicht getan.
„Die Wahlwiederholung ist eine große Herausforderung“
Das klingt sehr kompliziert und aufwendig. Was haben die Berliner am Ende davon?
Eine funktionierende Stadt, in der ein Verwaltungsgang nicht bereits bei der Terminvergabe zur Abenteuer wird. Künftig sollen die Menschen in einer Art Katalog nachschauen können, an wen sie sich mit ihrem Anliegen wenden können. Niemand soll sich mehr am Telefon von einer Amtsperson sagen lassen müssen, sie sei nicht zuständig.
Diese Erfahrung haben alle Berliner schon mal gemacht. Dieses Manko zu beseitigen, sollte uns den Aufwand einer Verwaltungsreform wert sein. Und: Wenn wir noch mehr Prozesse digitalisieren und verbessern, geht am Ende alles schneller.
Außerdem ist vorgesehen, dass einige berlinweite Aufgaben jeweils von einem Bezirk übernommen werden. In Ansätzen gibt es das schon. Lichtenberg ist allein zuständig für die Entsorgung von Schrottautos. Ein Vorbild?
Genau. Zentralisierung muss nicht bedeuten, dass das Land Aufgaben an sich zieht. Auch die Bezirke können das tun. Lichtenberg ist eines von vielen Beispielen dafür, dass so etwas schon jetzt gut funktioniert. Im Vorfeld der Wohngeldreform agiert Neukölln ebenso federführend für die anderen Bezirke und sorgt dafür, dass überall genügend Personal bereitsteht.
SPD und Grüne streiten darüber, ob der Klimaschutz-Volksentscheid ebenfalls am 12. Februar stattfinden soll. Wann rechnen Sie mit einer Einigung?
Die Wahlwiederholung ist eine große Herausforderung. Das verstehe ich. Was ich nicht verstehe: Warum hat sich die Innenverwaltung nicht darauf vorbereitet, dass zur Wahl auch ein Volksentscheid kommt?
Ein Volksentscheid fällt nicht vom Himmel. Bei früheren Volksentscheiden, die am Wahltag stattfanden, wurden die Stimmzettel hierfür gemeinsam mit den Stimmzetteln für die Wahl bestellt. Das ist diesmal offenbar nicht passiert und damit sind jetzt Fakten geschaffen worden, weil Zeit versäumt wurde. Ich bedaure das, denn nun wird es zwei Wahltage geben. Das wäre nicht nötig gewesen.
Ein weiteres Streitthema zwischen SPD und Grünen war ein autofreier Abschnitt der Friedrichstraße. Was haben Sie aus den Querelen um den mittlerweile durch eine Klage gestoppten Verkehrsversuch gelernt? Werden Sie mit Einschnitten verbundene Verkehrsprojekte künftig besser vorbereiten und kommunizieren?
Diesen Verkehrsversuch habe ich aus der vergangenen Legislaturperiode übernommen. Ich habe von Anfang an gesagt: Man muss Konsequenzen ziehen, wenn etwas nicht gut läuft. Versuche sind ausdrücklich dafür da, dass man aus ihnen lernt. Der Bereich sollte attraktiv für Fußgänger werden und auch den Handel stärken. Um das zu erreichen, haben wir den Radverkehr aus der Friedrichstraße genommen und in die Charlottenstraße gelegt. Im nächsten Schritt wird die Friedrichstraße in den kommenden Wochen zur Fußgängerzone umgewidmet.
„Wir arbeiten an einer dauerhaften Umwidmung zur Fußgängerzone“
Hat Sie der Gegenwind und die richterliche Entscheidung überrascht?
Diese Entscheidung habe ich akzeptiert und auch umgesetzt. Jetzt, wo die Autos dort wieder fahren, höre ich aber häufig, dass dieser Bereich der Friedrichstraße gar nicht wieder so attraktiv geworden ist wie zuvor von CDU und SPD behauptet wurde. Wir arbeiten weiter an einer dauerhaften Umwidmung zur Fußgängerzone und einer schönen Gestaltung, mit einer möglichst breiten Einbindung der Gewerbetreibenden. Nur das wird die Friedrichstraße wieder attraktiv machen.
Im Zuge der Neuordnung der Parkgebühren-Ordnung haben Sie die Menschen ermuntert, ihr Fahrrad oder ihren Roller auf Autoparkplätzen abzustellen. Drohen da nicht neue Konflikte?
Nein. Wir müssen all die Kleinstfahrzeuge von den Gehwegen runterkriegen. Das sind Stolperfallen für alte Leute und Menschen, die schlecht sehen. Und sie behindern Kinderwägen und Rollstühle. Ich möchte, dass die Gehwege wieder den Fußgängern gehören. Parkplätze auf Straßen sind nicht nur Autoparkplätze sondern Parkplätze für alle Fahrzeuge. Das ist auch nichts neues, so war es schon vorher geregelt. Im Rahmen der Mobilitätswende werden wir den Raum besser und fairer aufteilen. Das ist eine Frage von Gerechtigkeit.
Die Grünen wollen weniger Autos in der Innenstadt. Eine echte Verkehrswende ist aber nicht in Sicht. Jetzt haben Sie sich sogar von Pop-up-Radwegen verabschiedet. Wie wollen Sie der Mobilitätswende neuen Schub verleihen?
Oh nein, das stimmt so nicht. Pop-up ist nur eine Methode – ein Provisorium. Wir wollen mehr dauerhafte anstelle von provisorischen Radfahrstreifen markieren. Auf vielen Straßen geht das schnell, dort sind keinerlei Umbauarbeiten nötig. Um das rascher hinzukriegen und alle Aufgaben in einer Hand zu bündeln, arbeiten wir eng mit den Bezirken zusammen. 23 neue Projekte wurden bereits angeordnet.
„Etliche Pendler werden auf die Bahn umsteigen“
Radwege sind eine gute Sache, aber kein großer Durchbruch. Viele Menschen warten zum Beispiel auf die Verlängerung von U-Bahn-Strecken. Wann werden aus all den Ankündigungen endlich Tatsachen?
Mit dem Winterfahrplan ab dem 11. Dezember verkehren viele Regionalzüge mit einer deutlichen höheren Kapazität. Davon profitieren alle Berliner. In Kombination mit dem 29-Euro-Ticket wird das eine große Wirkung entfalten. Etliche Pendler werden auf die Bahn umsteigen. Bei allen Bedarfen unserer wachsenden Stadt wollen wir nicht vergessen, dass Berlin ein besseres ÖPNV-Netz hat als die meisten anderen Bundesländer. Wir müssen es so attraktiv gestalten, dass es noch mehr Menschen nutzen. Der Preis ist ein wichtiger Anreiz. Berlin schreitet hier voran.
Trotzdem hat Berlins Nahverkehrsnetz noch viele Lücken. Wann kommt die Verlängerung der U7 bis zur Heerstraße?
Schneller als eine Verlängerung der U7 wird die Fortführung der U3 bis Mexikoplatz kommen. Noch vor dem Ende der Legislatur 2026 wird es hier den ersten Spatenstich, also einen Baubeginn geben. Das ist für den gesamten Südwesten ein wichtiger Lückenschluss.
Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey macht sich vor allem für eine Verlängerung der U7 von Rudow zum Flughafen BER stark. Ihre Einschätzung dazu?
Dafür braucht es Gespräche mit Brandenburg. Dort würde der Großteil der Trasse verlaufen. Wir haben Brandenburg Unterstützung bei der Nutzen-Kosten-Untersuchung angeboten. Ohne die zahlt der Bund keine Fördermittel. Bislang sehe ich bei dem Thema keine Bewegung.
„Wir Grünen machen Politik für die ganze Stadt“
Sie fordern eine ökosoziale Wohnungspolitik. Wie kann es das Land Berlin schaffen, für schnellen, ökologischen und bezahlbaren Wohnungsneubau zu sorgen?
Ökosozial heißt, dass wir nachhaltig bauen, weil durch ökologisches Bauen und erneuerbare Energien für die Heizung auch die Nebenkosten später geringer ausfallen. Wir müssen der privaten Immobilienwirtschaft mehr abverlangen und uns auf – auch für die Mittelschicht – bezahlbaren Wohnungsbau konzentrieren.
Sollten die Grünen stärkste Kraft und Sie Regierende Bürgermeisten werden, wächst der Druck, weg von der bisherigen – zugespitzt formuliert – Klientelpolitik zu kommen und ein breiteres Politikangebot zu machen. Ist Ihre Partei dafür bereit?
Wir Grünen machen Politik für die ganze Stadt, deshalb stehen wir in Umfragen ja auch so gut da. Gleichzeitig ist die Zeit der großen Volksparteien vorbei. Jeder Partei im Abgeordnetenhaus muss klar sein: Die Mehrheit der Berliner hat sie nicht gewählt. Wenn ich Regierende Bürgermeisterin werde, dann weiß ich: Zuerst geht es darum, das Beste für alle Berliner zu erstreben. Erst danach kommt mein Parteiprogramm.
Also keine Spur von der „woken Innenstadtblase“, die Kritiker den Berliner Grünen immer wieder attestieren?
Schauen Sie sich die Wahlergebnisse der letzten Jahre an. Wir Grünen wachsen in der ganzen Stadt. Ich würde sogar sagen: Die Stadt wächst uns entgegen. Das ist kein Zufall.
Der Klimawandel macht sich auf viele Weisen bemerkbar. In Form von Hitzesommern, aber auch durch Gesundheitsbeschwerden und Krankheiten, die mit der Erderwärmung und Umweltschäden einhergehen. Dadurch wächst das Bewusstsein dafür, dass wir die Antworten liefern, die es jetzt braucht. Denn ökologische Politik ist auch sozial. Nie erlebe ich, dass jemand in Mahlsdorf oder Kladow zu mir sagt: „Das, was ihr wollt, interessiert mich nicht.“ Sondern: „Das, was es in anderen Teilen der Stadt gibt, möchte ich auch.“ Zum Beispiel gute Mobilitätsangebote, die einen dazu bringen, das Auto stehen zu lassen.
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Zur Person:
Bettina Jarasch wurde 1968 in Augsburg geboren. Nach dem Studium arbeitete sie als Journalistin. Ihre Karriere bei den Grünen begann im Jahr 2000 als Referentin der Bundestagsfraktion. 2011 wurde sie Co-Vorsitzende der Berliner Grünen. Für die Abgeordnetenhauswahl 2021 trat sie als Spitzenkandidatin an. Seit Dezember 2021 ist sie Bürgermeisterin sowie Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz. Mit ihrer Familie lebt sie in Wilmersdorf.
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Das Interview führte Nils Michaelis