Was die Politik in der deutschen Hauptstadt damit zu tun hat.
Haben Sie auch noch bis weit nach 18 Uhr vor Ihrem Wahllokal angestanden? Und haben Sie während der Zeit des Wartens daran denken müssen, dass man auf die Fertigstellung von Flughafen oder Staatsoper auch ewig warten musste? Genau wie auf den Termin im Bürgeramt, als der neue Personalausweis fällig wurde?
Haben Sie nicht auch gedacht, dass die dafür Verantwortlichen endlich mal für all das, was sie in den zurückliegenden fünf Jahren angerichtet oder nicht angerichtet haben, die Quittung bekommen müssten? Und wunderten Sie sich am nächsten Morgen so gar nicht darüber, dass genau diese Parteien zusammen wieder mehr als 50 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten?
Einzigartiger Mix in Berlin
Wenn es anders gekommen wäre, hätte ich mir wahrscheinlich wirklich ernsthaft Sorgen gemacht. So aber bleibt Berlin auch diesmal sich selbst wieder treu: Da trägt man einerseits nach außen seinen Hauptstadtstatus stolz vor sich her, leidet andererseits aber unter Improvisation und Dilettantismus in personell ausgezehrten Behörden.
Da sehnt man sich auf der einen Seite danach, im Konzert der Weltstädte wie Paris, London oder New York ordentlich mit auf die Pauke hauen zu können, auf der anderen Seite ist der Kiez für viele Berliner das Zentrum ihres fast schon kleinstädtischen Alltags. Es ist dieser einzigartige Mix aus Metropole und Dorf, aus ständigem Aufbruch und stetem Verharren, der Berlin – nicht nur im Vergleich mit anderen deutschen Städten – so besonders macht.
Freiräume in der Hauptstadt finden
Da ist die große Zahl an Start-ups, die Milliarden Euro umsetzen. Da sind die Universitäten, die Hoch- und Fachschulen, die vielen Forschungseinrichtungen. Und da ist die Kunst, sind die Theater und Ateliers, die Opernhäuser und Varietés. Sie alle locken Jahr für Jahr Zigtausende Menschen an in der Hoffnung, hier Freiräume für ihre Kreativität zu finden.
Berlin, schreibt Florian Illies in seinem Vorwort zu Karl Schefflers erstmals 1910 erschienener Streitschrift „Berlin – ein Stadtschicksal“, sei die Hauptstadt der Projekte, „wo die Visionen blühen wie andernorts die Wirtschaft“. Apropos Scheffler: Der Kunstkritiker ist für einen Satz verantwortlich, der zu den meistzitierten gehört, wenn es um Berlins Charakter, Berlins Seele geht. Berlin, so schrieb Scheffler schon vor mehr als 110 Jahren in seiner Streitschrift, sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“. Das „ewig Unfertige“ gehöre zu den typischen Merkmalen der Stadt.
Das Unfertige verschwindet
Doch genau die drohen, in den kommenden Jahren verloren zu gehen. Immer mehr Baulücken, Freiflächen, Kreativorte verschwinden. Wer sich Neubauquartiere wie die trostlose Europacity oder den Potsdamer Platz anschaut, wer rings um den Hackeschen Markt die besonderen Boutiquen und Restaurants vermisst, wer sich noch an die Kohlehändler und Kneipen rings um den Nollendorfplatz in Schöneberg, an das Public Viewing in der Baulücke in der Danziger Straße in Prenzlauer Berg, an die 150 abgerissenen Lauben der Kleingartenanlage Oeynhausen in Wilmersdorf oder das Atelierhaus in der Pankower Pestalozzistraße erinnern kann, der weiß, dass die Berliner Seele dabei ist, ernsthaft Schaden zu nehmen.
Kaum zu glauben, dass die jetzt in Verantwortung drängenden Politiker das verhindern können oder wollen.
Text: Ulf Teichert