Hannelore Jeschke nutzte die Grenzöffnung, um ihre Familie wiederzusehen.
Mein Mann hat Nachtschicht und ich langweile mich mal wieder vor dem Fernseher. Ich zappe zwischen den paar Programmen, die uns zur Verfügung stehen und lass mal kurz die Pressekonferenz mit Günter Schabowski laufen. Ihm wird ein Zettel überreicht, er nimmt ihn gedankenverloren entgegen und liest ihn vor „soeben ist beschlossen worden, dass jeder Reisewillige der DDR in die BRD darf. Ich denke: wie war das? Habe ich richtig gehört? Auch Schabowski ist verblüfft über das, was er da soeben vorgelesen hat. Gemeint aber ist, dass es kurzfristige Visa für eine Reise in die BRD geben soll. Es ist der Beschluss zur Änderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR.
Menschen strömen zu Grenzübergängen
Aber es ist zu spät. Um 20 Uhr meldet die ARD Tagesschau „die DDR öffnet ihre Grenze”. Später sieht man wie die Menschen zu den Grenzübergängen strömen. Ich habe fürchterliche Angst und mir laufen die Tränen, soll das alles wahr sein? Oder schießt man auf die Menschen? Aber die Grenzen werden tatsächlich geöffnet. Wird sie auch morgen noch offen sein? Wie gern würde ich noch heute Abend zu meinen Eltern fahren, aber es ist schon spät und mein Mann noch nicht zu Hause. Also warte ich auf ihn. Ich habe Glück, dass er nach Hause kommt, denn seine Kollegen sind gleich von der Arbeit aus rüber in den Westen gegangen. Denn alle haben Angst, dass man die
Grenzen wieder schließt. Vor vier Jahren stand ich schon einmal am Grenzpunkt Friedrichstraße. An diesem Tag
sind vorwiegend ältere Menschen hier und ein Muttchen sagte zu mir „Na, Mädelchen, du stehst hier wohl falsch, denn hier geht es nach dem Westen. Im nu stehe ich im Mittelpunkt und mache den umstehenden Leuten klar, dass ich wegen der Hochzeit meiner Schwester in den Westen darf. Es wird noch viel diskutiert über das Glück, das ich doch habe.
Treffen mit der Schwester
Auch einen Tag nach der Grenzöffnung stehen Menschen über Menschen von der Neustädtische Kirchstraße über die Dorotheenstraße und Friedrichstraße entlang durch die S-Bahnbrücke bis zum Tränenpalast, dem Übergang. Mir wird Himmel Angst und Bange, wie soll ich das nur durchstehen. Ich laufe eine Stunde hin und her bis ich in der Friedrichstraße einen freien Platz auf einer Parkbank finde. Es geht aber doch einigermaßen schnell und nach drei Stunden sind wir am Übergang. Dieses mal sind keine Zöllner zu sehen, die einem mit ihren Blicken durchbohren, auch stehen keine Abfertigungshäuschen mehr da und die Abfertigung, sprich der Visastempel, wird schnell eingetragen und schon geht es weiter.
Die U-Bahnen fahren heute im Drei-Minutentakt. Nach insgesamt fünf Stunden sind wir bei den Eltern und treffen auch dort meine Schwester. Die Freude ist unbeschreiblich groß. Wir liegen uns in den Armen und können die Tränen nicht zurückhalten. Aber alle stellen wir uns die Frage: Bleibt die Grenze nun offen?
Sie bleibt es.
Datum: 9. November 2019, Text: Hannelore Jeschke, Bild: imago images / Westend61