Erinnerungen an einen großartigen Sommer: die virtuelle Reichstagsverhüllung. Bild: 3D Simulation Dorian Rigal Minuit, Art Direction Anna Bacheva/dpa
Erinnerungen an einen großartigen Sommer: die virtuelle Reichstagsverhüllung. Bild: 3D Simulation Dorian Rigal Minuit, Art Direction Anna Bacheva/dpa

JUBILÄUMSAKTION Vor 30 Jahren verhüllte das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude den Reichstag. Eine Lichtinstallation vom 9. bis 20. Juni soll nun daran erinnern

„Die Politiker dachten, es würde die Deutschen spalten“, sagt der Fotograf Wolfgang Volz auf die Frage, woher seiner Meinung nach der Widerstand gegenüber dem Projekt „Wrapped Reichstag“ kam, „dieses leichtfertige Handeln, dieses Schabernack-Treiben mit einem Objekt der Politik.“ Dreimal lehnte Berlin das Projekt ab. Vor 30 Jahren ließ das Künstlerpaar Christo und Jean-Claude das Gebäude mit 70 Tonnen Stoff komplett verhüllen. Volz bezeichnet die Reichstagsverhüllung als sein Lebenswerk. Niemals davor und nie mehr danach sei er an etwas Vergleichbarem beteiligt gewesen.

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1971 schickte der US-amerikanische, in Berlin ansässige Journalist und Historiker Michael S. Cullen eine Postkarte vom Reichstagsgebäude an Christo mit dem Vorschlag, diesen zu verhüllen. Das Paar hatte im Vorfeld bereits die Kunsthalle in Bern (1968) und das Museum of Contemporary Art in Chicago (1969) verhüllt. Zum selben Zeitpunkt lernt Wolfgang Volz das Paar kennen. Über die Jahre wird er vom Fotografen des Paares zu einem der Haupt-Realisatoren des Reichtagsprojekts.

Für Objektkunst – eine Kunstform, die Gegenstände in einen neuen künstlerischen Kontext setzt – hat sich der 1935 in Bulgarien geborene Christo bereits als junger Mann interessiert. 1960 schloss er sich in Paris der soziologisch fundierten Künstlergruppe „Nouveau Réalisme“ an, die zur Entwicklung der Objektkunst beigetragen hat. Mit seiner Frau Jeanne-Claude, die am selben Tag wie Christo in Marokko zur Welt kam, setzte er seine Kunstneigung schließlich in Form von gigantischen Großprojekten um.

Viele Barrieren im Vorfeld

Niemals jedoch sollte ein Projekt so viel Zeit in Anspruch nehmen wie die Verhüllung des Reichstags, die erst 23 Jahre nach der ersten Antragsstellung genehmigt wurde. Den Anfang der Ablehnungen machte Bundestagspräsident Karl Carstens (CDU) im Jahr 1977, es folgten die Bundestagspräsidenten Richard Stücklen (CSU) 1981 und Philipp Jenninger (CDU) 1987.

Erst das Jahr 1991 brachte Zustimmung, als Rita Süssmuth (CDU) Jeanne-Claude und Christo in einem Brief ihre Unterstützung mitteilte. Sie war zu dem Zeitpunkt seit drei Jahren Bundestagspräsidentin. Am 25. Februar 1994 setzte sie sich bei der Abstimmung im Bundestag, der zum ersten Mal in seiner Geschichte über ein Kunstwerk entschied, schließlich gegen ihre eigene Partei durch. „Das war im Grunde genommen das Ziel der beiden: eine intensive Beschäftigung mit der deutschen Politik anhand des Kunstwerks ‚Verhüllter Reichstag‘“, erzählt Wolfang Volz.

Die Verhüllter Reichstag GmbH wurde gegründet, deren Geschäftsführer ebenfalls Volz war. Für die technische Umsetzung war Frank Seltenheim verantwortlich. Bereits damals hatte er sich auf komplexe Höhenarbeiten spezialisiert. 90 professionelle Kletterer brachten die 70 Tonnen Stoff am Reichstag an, ohne Einsatz schwerer Maschinen, worauf die Christos bei all ihren Verhüllungsaktionen bestanden. „Da war viel Improvisation gefragt. Dieser Auftrag war ja in jeder Hinsicht einzigartig“, erzählt Seltenheim.

Vier Monate hatte sein Team Zeit, sich vorzubereiten, da ein Umbau des Reichtags unmittelbar nach der Verhüllungsaktion bevorstand – vier Monate mit wenig Schlaf.
„Ich hab nachts weitergetüftelt, während meine Leute schliefen“, erzählt Seltenheim. Und dann stand er, der verhüllte Reichstag, vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 und lockte über fünf Millionen Besucher an. „Das war eine Stimmung rund ums Gebäude, die musste man erleben, um es zu verstehen“, erzählt Wolfgang Volz.

Eine einmalige Magie

Frank Seltenheim spricht von einer regelrechten Magie, die von der Verhüllung ausging: „Es gab einen Bauzaun rund um das Kunstwerk, der nach dem Aufbau wegsollte. Ich war dagegen, weil ich dachte, in Berlin funktioniert das nicht, das wird sofort angesprayed, von Leuten vereinnahmt, aber Christo bestand darauf – und es ist nichts passiert. Ich hatte das Gefühl, dieses Kunstwerk macht die Leute ruhig, verhindert Gewaltbereitschaft.“

Was für eine Bedeutung hatte sie denn eigentlich, die Verhüllung? Laut Volz ist der Stoff eine Weiterführung unserer Haut. Also verhüllen im Umkehrschluss wir das Gebäude? Darauf lacht Volz kurz laut und schelmisch auf und sagt dann ernst: „Das ist richtig.”

In jedem Fall ist diese Magie von damals für ihn und für Frank Seltenheim nicht reproduzierbar, auch nicht mit einer Lichtinstallation: Von 9. bis 20. Juni wird ab 21:30 Uhr bis 1 Uhr nachts eine Simulation der Verhüllung auf die Westfassade des Reichtags projiziert. Initiatoren dieses Projekts sind der Unternehmer Roland Specker und der Kulturmanager Peter Schwenkow. Beide waren 1995 an der tatsächlichen Verhüllung beteiligt und wollen mit der Installation daran erinnern. Die Kosten des über 100.000 Euro schweren Projekts tragen Schwenkow und Specker zum Großteil selbst.

Für Frank Seltenheim wird die Essenz des Kunstwerks „Verhüllter Reichstag“ mit der Lichtinstallation entwürdigt. Kern der Arbeit von Jeanne-Claude und Christo sei ebenjener temporäre Charakter gewesen: „Sie haben immer gesagt, das einzige was von ihren Kunstwerken bleibt, sind die Fotos”, erzählt er. Auch ihn verband eine Freundschaft mit dem Künstlerpaar. Er ist überzeugt davon, dass es die Simulation verhindert hätte. Hingehen werde er trotzdem, um „die vielen vertrauten Gesichter von damals wiederzusehen.“

Auch Wolfgang Volz sagt, dass sich Christo stets gegen jede Form von Technik in der Kunst gewehrt habe. „Man darf einfach nicht den Fehler begehen, zu glauben, das sei nun Teil des Verhüllungsprojekts. Denn das ist es ganz und gar nicht“, mahnt er an. Volz, der seit Jahren in Stockholm lebt, wird für die Installation nicht extra anreisen.

Was die beiden nun tatsächlich davon denken – wir wissen es nicht. Jeanne-Claude ist 2009, Christo 2020 in New York gestorben. Christo selbst sagte einmal „our work is always about freedom”, kostenlos müsse es sein und für alle zugänglich. Diese Auflagen erfüllt die Installationsaktion immerhin.

Text: Marie Ladstätter