Die Autorin Mirna Funk schreibt, warum die Ausweisung Wolf Biermanns 1976 dazu führte, dass viele jüngere Juden in der DDR damit begannen, sich mit ihrem Jüdischsein zu beschäftigen.
Wir saßen im Muret la Barba in Mitte. Die Kellnerin öffnete die zweite Flasche Weißwein für uns. Es waren immer noch 25 Grad, dabei war die Sonne längst untergegangen. Den halben Abend hatte ein Mann um die fünfzig mit an unserem Tisch gesessen, ohne dass wir ins Gespräch gekommen waren. Ich hatte ihm die Pasta Vongole empfohlen und er hatte sich nach dem letzten Bissen mehrmals hintereinander bedankt.
Dann bestellte er seinen dritten Rotwein und fragte uns auf Englisch nach der Gegend. Er wohne in der Steinstraße und komme ursprünglich aus Oslo, sei aber in Brooklyn aufgewachsen. Wo könne er am besten essen und einkaufen gehen. Wo gebe es ein Sportstudio. Wo das beste Sushi. Detailreich beantworteten wir seine dringlichsten Fragen. Was er in Berlin mache, wollten wir schließlich wissen und er erklärte, dass er vor einer Woche hergezogen war und nun verantwortlich für die Real-Estate-Projekte von Ikea sei.
Volle Wahrheit
„Seid ihr aus Berlin?“, fragte er, und wir bejahten. „Aus Ost-Berlin, um genauer zu sein“, fügten wir hinzu. Das haute ihn schon mal um. Mauer, Stasi und „Das Leben der Anderen“ fiel ihm dazu sofort ein. Und weil wir unser Ass im Ärmel kannten und die Reaktion auf unser kleines großes Geheimnis eh das Beste war, was es gibt, warteten wir kurz ab, und erörterten, dass das noch nicht alles sei. Dass wir nicht nur aus Ost-Berlin stammten und hinter der Mauer aufgewachsen waren, sondern auch Juden seien. „Juden. Wir sind Juden aus der DDR“, sagten wir und genossen, zurückgelehnt und Wein nippend, den Gesichtsausdruck, der immer und bei jedem entstand, wenn wir mit der vollen Wahrheit rausrückten.
K. und ich kennen uns über fünfzehn Jahre. Zufällig lernten wir uns 2005 über einen gemeinsamen Freund kennen. Dann trennten sich unsere Wege. Ab und zu stießen wir wieder zufällig zusammen bis sich in den letzten Jahren allmählich eine enge Freundschaft entwickelte. Vielleicht auch eine Schicksalsgemeinschaft. Wahrscheinlich beides. Zwei Dritte-Generations-Vaterjuden aus der DDR. Das ist wie eine Nadel im Heuhaufen finden. So was gibt es nicht wie Sand am Meer.
Deshalb ist da viel gemeinsame Erfahrung und ähnliche Traumatisierung, da sind zwei Kindheiten in heruntergekommenen Altbauwohnungen mit Einschusslöchern in den Hausfassaden, da sind schwer traumatisierte Großeltern und Eltern, da ist eine gebrochene jüdische Identität, da sind sehr viele Fragen und sehr viele Antworten. Wenn wir uns wöchentlich zu pseudo-therapeutischen Abendessen bei zu viel Weißwein treffen und dieses Chaos miteinander teilen, dann vermutlich mit der Hoffnung, am nächsten Morgen mit einem leichteren Herzen aufzuwachen.
Böser Mann
Denn die DDR-Juden sind eine eigene Spezies. Nur fünftausend gab es von uns. Viele davon waren vor oder während des Zweiten Weltkriegs ins Exil gegangen, irgendwo versteckt gewesen oder hatten Vernichtungslager überlebt, um anschließend in die DDR zu gehen. Meistens weil sie schon vor dem Krieg mehr Kommunist als Jude waren, weil die Vorstellung einen antifaschistischen Staat aufzubauen und sich selbst damit zum Widerstandskämpfer zu erheben, angenehmer schien, statt als Opfer der Nazis in die deutsche Geschichte einzugehen.
K.s Familie väterlicherseits waren solche Kommunisten und meine auch. Sein Großvater kämpfte im Spanienkrieg, mein Urgroßvater hatte es zumindest eine lange Zeit behauptet. Mitte der Neunzigerjahre bewies ihm ein böser Mann namens Karl Corino das Gegenteil. Corino war ein hessischer Literaturredakteur, er warf meinem Urgroßvater in einem Abrechnungsbuch vor, seine Biografie geschönt zu haben. Er hatte, anders als vorgegeben, nicht im Spanienkrieg gekämpft. Der hessische Literaturredakteur verurteilte ihn, ohne nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was es mit einem Menschen möglicherweise macht, seine Frau verloren und seine Tochter gerade so gerettet zu haben. Wie traumatisiert mein Urgroßvater war.
Überzeugter Kommunist
Bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls hatte sich Stephan Hermlin, wie sich mein Urgroßvater nannte, obwohl er als Rudolf Leder geboren wurde, zum wichtigsten Schriftsteller der DDR hochgearbeitet. Er war eigentlich zusammen mit meiner Urgroßmutter Juliette 1936 nach Palästina ausgewandert und dann, ob der Hitze, des Staubs und der anstrengenden Kämpfe mit den Arabern wieder zurück nach Europa gegangen. Nach Paris, um genauer zu sein, wo 1938 meine Großmutter geboren wurde. Die sieben Jahre, die darauf folgten, werden die schrecklichsten seines Lebens gewesen sein, und es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass er sich davon niemals mehr erholte.
Trotzdem wurde er ein enger Vertrauter Honeckers, war einer der aktivsten Literaten der DDR und blieb bis zu seinem Tod 1997 überzeugter Kommunist. Diese Biografie steht exemplarisch für die Biografien vieler DDR-Juden. Sie hatten hohe politische Ämter inne, waren Teil der kulturellen Elite, prägten die DDR in einem besonderen Maße. Natürlich niemals als Juden, sondern immer primär als Kommunisten.
Trotzdem wusste man selbstverständlich, dass sie Juden waren. An die große Glocke hängte man es dennoch nicht. Die Kinder und Enkel dieser politisch und kulturell aktiven DDR-Juden waren eingebunden in ein normales ostdeutsches Leben. Es gab keine Kindergärten, Schulen oder Ferienlager nur für Juden wie man es aus Westdeutschland kannte. Vermutlich gab es dafür auch zu wenige.
Heimliche Treffen
Aber vor allem waren diese DDR-Juden nichtjüdische Juden. Sie waren nicht religiös und feierten nur in Einzelfällen die hohen Feiertage. Sie hatten ihre jüdische Identität gegen die große Sache getauscht. Und dass hatte ihnen viele Jahrzehnte dabei geholfen mit dem Schmerz des Verlustes, der Zerstörung des alten Lebens und der Auslöschung des europäischen Judentums umzugehen. Anders als in Westdeutschland, wo die Juden vor allem unter sich blieben und andere Wege fanden, sich zu rächen oder eben zu vergessen, machten sich die DDR-Juden den politischen Aktivismus zu Nutze und medikamentierten sich damit selbst.
Solange jedenfalls bis 1976 Biermann, seines Zeichens selbst Jude, gegen seinen Willen ausgebürgert wurde und nach einem Konzert in Köln nicht mehr zurück in die DDR durfte. Mein Urgroßvater gehörte zu den Initiatoren des Protestes prominenter Schriftsteller gegen die Ausweisung von Wolf Biermann. Was auch immer man von der DDR hielt, danach konnten die Intellektuellen und ganz besonders die Juden unter ihnen, den Glauben an sie nicht mehr aufrechterhalten.
Sie begannen, sich das erste Mal nach sehr langer Zeit wieder mit ihrem Jüdischsein zu beschäftigen. Gerade die zweite Generation, die mittlerweile zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt war, und sich fragte, was es bedeutete Jude oder Jüdin zu sein. Sie trafen sich heimlich in den Hinterzimmern der wenigen intakten Synagogen und lernten, was man ihnen die gesamte Kindheit über vorenthalten hatte: wie man die Schabbat-Kerzen anzündet, das Brot bricht, den Wein segnet.
Wer bin ich? Die Frage nach der eigenen Identität beantwortete sich in den kommenden Jahren und vor allem nach dem Mauerfall nur allmählich. Und wir Kinder dieser zweiten Generation wurden durch diesen Identitätssumpf geschleift, ohne dass man uns viel Zeit widmete. Die Frage nach sich selbst war so immanent und verstörend, dass es weder Raum noch Kapazitäten gab, dafür zu sorgen, unsere Identität nicht auch in ein völliges Chaos zu stürzen.
Tiefer Schmerz
Sie schleppten uns nach der Wiedervereinigung nach Israel, wo wir oftmals das erste Mal verlorene Familienmitglieder wiedersehen konnten und mit einer völlig neuen und anderen Kultur konfrontiert wurden. Zurück in Deutschland waren wir plötzlich Juden unter Nichtjuden. Denn die jüdischen Strukturen, die in Westdeutschland längst existierten, gab es in Ostdeutschland immer noch nicht.
Das sollte viele Jahre dauern. Mehr und mehr Juden mussten dafür nach Deutschland. Insgesamt 100.000 nämlich, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge, nach dem Zusammenbruch der UdSSR ein neues Leben in Deutschland begannen und das jüdische Leben der letzten dreißig Jahre prägen würden.
K. hatte binnen einer halben Stunde eine Flasche Weißwein alleine getrunken und ich besorgte ihm ein bisschen Brot mit Olivenöl. Wir verabschiedeten uns vom Real-Estate-Ikea-Mann und schlenderten gemeinsam durchs Scheunenviertel. Als wir an den Mitte-Rich-Kids vorbeikamen, die immer in der Auguststraße lungern, die ihre Urgroßeltern vor 80 Jahren judenrein gemacht hatten, schrie K. total betrunken: „Ihr ekligen deutschen Enkel!“ Ich fühlte mit ihm und schnappte mir seine rechte Hand. „Ich will hier nicht Händchen halten mit dir“, lallte er, „du bist so doof wie ein Brettspiel.“
Und ich erinnerte mich an all die Abende, an denen ich wütend und beleidigend durch die Straßen Berlins gezogen war, ob des tiefen Schmerzes und der kaum auszuhaltenden Ungerechtigkeit. Jahrelang wollte ich genauso wie K. an diesem Abend, um mich schlagen, wissend darum die Geschichte nicht verändern zu können. Erneut nahm ich seine Hand, sagte: „Für das Brettspiel entschuldigst du dich morgen.“ Und diesmal ließ er nicht los.
Gekürzte Fassung eines Beitrages aus der Printausgabe der Berliner Zeitung. Den vollständigen Beitrag und alle anderen Artikel der Reihe „Zeitenwende“ finden Interessierte auf der Hompage der Berliner Zeitung.
Mirna Funk (39) lebt in Berlin und Tel Aviv, Sie studierte Philosophie und Geschichte an der Humboldt Universität. Seit September 2018 ist sie Kolumnistin bei der Vogue und schreibt über jüdisches Leben heute. 2015 erschien im S. Fischer Verlag ihr viel besprochener Debütroman „Winternähe,“ der mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichnet wurde.
Datum: 12. September 2020, Text: Mirna Funk, Bild: Sebastian Wells