Menschenmassen auf dem Kurfürstendamm nach der Maueröffnung in Berlin; Aufnahmedatum geschätzt Crowds on the Kurfürstendamm after the Wall opening in Berlin date geschätzt

Reinhard Höfer fuhr am 10. November mit einem Freund zum Ku’damm.

Es ging also los. Ich wusste, dass in der Sonnenallee ein Grenzübergang war. Denn dort wohnten meine ehemaligen Schwiegereltern. Und aus dem Fenster von deren Wohnung hatte ich schon öfter auf den auch mit großen Beton-Klötzen gesicherten Übergang geschaut… Wir mussten uns beeilen, um es bis 8 Uhr zu schaffen. Ich wollte es schaffen. Obwohl mir nicht ganz geheuer war. Ich weiß nicht warum, aber ich tankte noch das Auto voll.

Grenzenlose Freiheit

Wir näherten uns also dem Grenzübergang an der Baumschulenstraße und es hieß dann erst einmal anstehen. Das waren wir als DDR-Bürger gewöhnt. Und hier war es ja für was richtig Besonderes. Nur: die Zeit lief uns weg und ich hatte Angst, wir könnten es vor 8 Uhr nicht mehr schaffen. Dann kam der große Augenblick: wir fuhren über die Grenze (damals haben wir wohl noch gedacht: in die „grenzenlose“ Freiheit). Wenn ich mich recht erinnere, standen da immer noch (so wie auch nachts) Westberliner Spalier und klopften auf die Wagendächer der langsam vorbeifahrenden Auto. Es war überwältigend. Es war ein seltsames, bis heute mir fast unbeschreibliches Gefühl: Schauer liefen mir den Rücken hinunter. Ich war den Tränen nahe (Jahre danach noch, versagte mir beim Erzählen an dieser Stelle immer fast die Stimme). Ich fuhr rechts ran, hielt und sah meinen Freund Siegfried an: „Kannst Du das glauben?“ Er: „Nein, unglaublich!“

Als wir dann irgendwann jeder unsere 100 DM hatten, diesen großen blauen Schein, gingen wir die Kleiststraße in Richtung Tauentzienstraße und standen irgendwann vorm KaDeWe. Das Kaufhaus kannte Siegfried noch von damals. Wir hinein, in dieses Edel-Kaufhaus… aus der DDR-Mangelwirtschaft kommend. Man stelle sich das bildlich vor. Jede Etage haben wir bestaunt. Und fast ganz oben dann die Krönung: die Feinkostetage. Ich stand da: fassungslos, wie gelähmt und konnte nur noch meinen Kopf schüttelten… Es war für mich nicht begreifbar: dieses Überangebot, diese Früchte, bergeweise, deren Namen ich nicht mal kannte.

Emotionales Ereignis

War das nun tatsächlich mein größtes emotionalstes Erlebnis? Ein großes und sehr emotionales war es schon, bis dahin eventuell das größte in meinem Leben. Und es war es auf alle Fälle wert, endlich einmal aufgeschrieben zu werden. Denn immer, wenn ich mich daran erinnere, werden meine Augen feucht. Und: so viele Erlebnisse in meinem Leben, die das bewirken, gibt es nicht…

Datum: 9. November 2019, Text: Reinhard Höfer, Bild: imago images / Sven Simon