Lena Linck war 1989 zwölf Jahre alt und sicherte sich am 10. November ein Stück der Berliner Mauer.
Es war schon dunkel als meine Mutter und ein paar Bekannte entschlossen, zum Brandenburger Tor zu fahren und diesmal kam ich mit. Es war alles voller Menschen -auch auf der Mauer. Und unsere Truppe kletterte auch rauf beziehungsweise ließen wir uns raufschieben und -ziehen. Oben war mein erster Eindruck: „Mein Gott, ist die breit!“ Normalerweise waren die Mauerteile dünne Betonfronten mit einer runden Krone. Aber hier war es flach und breit genug für ein halbes Dutzend Leute.
Auf der Mauer
Man sah nur die Menschen um einen herum, ging vorsichtig umher und dann stand ich auf einmal auf der anderen Seite der Mauerkrone: Das Brandenburger Tor, in Licht gebadet, der Platz rund herum taghell – und gefühlt hundert Grenzer die im perfekten Halbkreis knapp fünf Meter vor der Mauer standen, die Gesichter alle dem Westen zugewandt. Mir war mulmig zumute, aber ich hatte diesmal keine Angst. Es waren ja so viele Menschen hier und feierten und alles war friedlich. „Komm Kleene, setz’ dir.“ Direkt vor mir war ein Platz frei geworden und ich setzte mich neben den älteren Herrn.
Jetzt sah ich nur noch nach vorne, es war als wenn die Menschen hinter mir verschwunden waren. Ich sah die Massen auf dem Halbbogen vor mir und einige sprangen sogar auf die Ostseite hinunter. Die Grenzer gingen auf diese zu, packten sie links und rechts unter dem Arm – und schoben sie sanft aber bestimmt wieder auf die Mauer rauf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, im falschen Film zu sein. Es war alles sehr schön, aber jeder wusste, wie vorsätzliche Grenzverletzung normalerweise gehandhabt wird: Glücklich schätzen kann sich der, der nur verhaftet wird.
Ansteckende Freude
Nach und nach schwand aber das mulmige Gefühl und die Euphorie steckte an. Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, selber runterzuspringen. Nur kurz, einmal im Osten gewesen zu sein. Aber es sah von oben so hoch aus und nur nackter Beton unter einem. Und die Grenzer konnten jederzeit ihre Meinung ändern und doch Leute abführen. Ich blieb sitzen, bis mich irgendwann meine Mutter wiederfand und wir herunterkletterten. Wir wollten nach Hause, aber 20 Meter neben uns gab es lautes Gejohle, Klopfen und
„Komm – mehr!“-Rufe.
Mauer-Stücke
Als wir hin sind, waren wie überall anders auch, Leute auf und vor der Mauer. Aber einer der Männer auf der Mauer hatte einen spitzen Hammer und schlug Teile von ihr ab. Der Hammer ging auf und nieder und Teile der Krone fielen einfach nach unten, wo die Leute sie dann lachend aufsammelten. Ich bekam ein Stück ab und nahm es mit nach Hause. In dieser Nacht hatte die Mauer ihren Schrecken für mich für immer verloren.
Datum: 6. November 2019, Text: Lena Linck, Bild: Privat/Lena Linck