Diesen Tag wird Dieter Hötger nie vergessen. Vor 60 Jahren scheiterte der Versuch, seine Familie aus der DDR durch einen Tunnel in den Westen zu holen. Eine Gedenktafel erinnert an die dramatischen Ereignisse in der Sebastianstraße in Kreuzberg. Zum Jahrestag wurde sie auf den neuesten Stand gebracht.
Unverhofft kommt der Moment, als Dieter Hötger bei der Übergabe der erneuerten Gedenktafel die Stimme versagt und er für ein paar Sekunden die Balance verliert.
Routiniert hatte der 83-Jährige zuvor berichtet, wie er im Frühsommer 1962 mit seinem Freund Siegfried Noffke einen 35 Meter langen Tunnel von einem Keller in der Sebastianstraße in Kreuzberg bis zur Heinrich-Heine-Straße in Mitte grub. Und welch schreckliches Ende die Aktion nahm, die zum Ziel hatte, ihre Frauen und Kinder nach West-Berlin zu schleusen. So wie er es schon viele Male zuvor vor Publikum erzählt hat.
Wieder einmal lässt der später als „Tunnel-Dieter“ bekannt gewordene Zeitzeuge Revue passieren, wie die beiden Freunde am 28. Juni 1962 im Keller des Ost-Berliner Hauses in der Heinrich-Heine-Straße 45-49 in einen Hinterhalt der DDR-Staatssicherheit geraten.
Blick in zwei Machinenpistolen
Als Hötger aus dem Tunnelausgang blickt, feuern sofort zwei Maschinenpistolen auf ihn los. Er überlebt schwer verletzt mit sieben Kugeln im Leib. Eine Kugel traf ihn nahe der Hauptschlagader am Kopf. Munitionsreste stecken bis heute in seiner Lunge. Noffke erliegt noch vor Ort seinen Schussverletzungen.
Die Zuhörer werden Zeugen der jahrelangen Odyssee durch DDR-Gefängisse, die sich der Verurteilung wegen „staatsgefährdender Gewaltakte und Verleitung zur Republikflucht“ anschloss. 1967, nach jahrelanger Einzelhaft, gelingt ihm der einzige belegte Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis Bautzen II.
Wenige Tage später wird Hötger gefasst und bekommt acht weitere Jahre Haft dazu. 1972 wird er von der Bundesrepublik freigekauft. Als Hötgers Erzählung diesen Punkt, der ihm die ersehnte Freiheit brachte, erreicht, sind die Ereignisse wieder so präsent, dass der ältere Herr aus dem Tritt gerät und um Fassung ringt.
Neues Leben im Westen
Ein Happy End war die Ausreise nur bedingt. Die Familie des gebürtigen Spandauers war längst zerfallen, die Ehe mit seiner zeitweise ebenfalls inhaftierten Frau gescheitert. Hötger baute sich in West-Berlin ein neues Leben auf. Seine Tochter aus zweiter Ehe begleitet ihn am Gedenktag.
Hötgers Erzählung macht es den Menschen, die die Gedenkveranstaltung verfolgen, bewusst: Genau vor 60 Jahren haben sich an diesem Ort an der Grenze zwischen Kreuzberg und Mitte (also damals zwischen Ost- und West-Berlin) grauenhafte Dinge abgespielt. Heute sind die Ereignisse und Hötgers im Grunde filmreifer Lebensweg bestens dokumentiert, wie auch die Gedenktafel in der Sebastianstraße beweist.
Hötgers gescheiterte Fluchthilfe aus Liebe steht für zahllose weitere Schicksale an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. Bis 1989 wurden etwa 60.000 Menschen wegen des Versuchs, die DDR zu verlassen, inhaftiert und verurteilt. Laut der Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität starben mindestens 421 Personen an der Grenze zwischen DDR und BRD, darunter auch DDR-Grenzsoldaten.
Rund 13.000 Berliner Familien wurden durch den Mauerbau im August 1961 auseinandergerissen. In ihrer Verzweiflung gruben die Menschen 60 Fluchttunnel zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt.
Digitale Informationen
An dem Gedenkort in der Sebastianstraße und vor allem durch Hötgers Worte wird dieses langsam aus dem öffentlichen Blickfeld geratende Thema auf bedrückende Weise konkret. Zum Gedenken an die Ereignisse vom 28. Juni 1962 hatte der Verein Berliner Unterwelten vor 13 Jahren eine Gedenk- und Informationstafel platziert. In diesem Jahr wurden Texte und Bilder erneuert, die Inhalte wurden erweitert und sind nun auch via QR-Code in englischer Sprache abrufbar.
Um an das Drama vor 60 Jahren zu erinnern, legt Hötger an diesem Tag gemeinsam mit Dieter Arnold vom Verein Berliner Unterwelten einen Kranz am Gedenkort nieder. Es ist nicht zuletzt eine Erinnerung an Siegfried Noffke. Hötger bedankt sich bei dem Verein dafür, seines Freundes zu gedenken.
Mit den Ereignissen von damals hat er seinen Frieden gefunden, selbst wenn sie an Tagen wie diesem wieder hochkommen. Geblieben ist der Hass auf den Menschen aus dem Freundeskreis, der den Fluchtplan damals an die Stasi verraten hat.
Wut auf Egon Krenz
Und die Wut auf diejenigen, die den Schrecken von Mauer und Stacheldraht relativieren. Wie zum Beispiel der frühere DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz. Der hat jüngst behauptet, der Ursprung des Mauerbaus liege in der Währungsreform in den West-Zonen. Das lässt sich mindestens als eine Mitverantwortung des Westens interpretieren.
Hötger hat dazu eine klare Meinung: „Wenn ich den Namen ,Egon Krenz‘ bloß höre, kommt mir die Galle hoch. Das ist kein Mensch, sondern ein Raubtier. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking hat er Beifall geklatscht.“
Text: Nils Michaelis