Die Zahl der Drogenberatungsgespräche in Marzahn-Hellersdorf ist in den vergangenen Monaten enorm gestiegen. Beratungsstellen kämpfen mit vielen Problemen.
Knapp zwei Jahre ist es her, das der Marzahn-Hellersdorfer Jugendstadtrat Gordon Lemm (SPD) mit einem Facebook-Post die Nachbarn, Eltern und Lehrer im Bezirk alarmierte. „Wir haben seit einiger Zeit einen verstärkten Konsum der Droge Ecstasy im Bezirk wahrgenommen. Betroffen sind Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 14 Jahren, eher Mädchen als Jungen“, schrieb der Stadtrat im Sommer 2019.
Neue Entwicklungen auch wegen Corona
Wenige Monate später ließ Corona eine andere Zeit auch im Berliner Südost-Bezirk ticken. Und die hatte ihre negativen Auswirkungen auf den Alkohol- und Drogenmissbrauch nicht nur bei Kindern und Jugendlichen. “Die Nachfrage für unsere Beratungstermine zeigt uns, dass die Drogenprobleme im Bezirk sehr stark gewachsen sind und sich in ganz neue Richtungen entwickelt haben“, sagt Lars Behrends von der vista – Drogen- und Suchtberatung in der Allee der Kosmonauten. Jährlich nutzen rund 950 Menschen die Drogenberatungen der vista im Bezirk. In jedem Jahr nehmen seine Kollegen dabei rund 450 neue Fälle auf. „Bis vor wenigen Jahren war der Anteil der russischstämmigen Cannabis-User in unserem Bezirk sehr hoch.“
Die Mischung der Drogenkonsumenten habe sich aber auch durch die Corona-Zeit deutlich verändert, so Behrends. Die Kombination von Alkohol und Drogen, der sogenannte Beikonsum, sei ein stark wachsendes Phänomen der vergangenen beiden Jahre. Auch der Medikamentenmissbrauch, Kokain-, Speed- und Ecstasy-Konsum sei im Bezirk zuletzt stark angestiegen. Während früher viele User an den bekannten Hotspots in der Öffentlichkeit ihre Drogen kauften und konsumierten, habe die Corona-Zeit auch den Drogen-Markt im Bezirk stark verändert. Konsumenten bestellen ihre Substanzen heutzutage immer häufiger per Telefon. Per Kurier wird der Stoff geliefert, der dann oft zuhause allein konsumiert wird.
Drogensüchtige: hohe Dunkelziffer im Bezirk
Behrends: „Auch viele ältere Menschen im Alter von über 55 Jahren zählen inzwischen zur typischen Klientel der vista-Suchtberatung. Vorrangige Suchtprobleme sind in neun von zehn Fällen noch immer dem Alkohol zuzuschreiben.“ Der Altersdurchschnitt der süchtigen Menschen, die sich von den vista-Mitarbeitern beraten lassen, liege bei rund 47 Jahren. 62 Prozent davon seien Männer, 38 Prozent Frauen, neun Prozent haben einen Migrationshintergrund. „Diese Statistik zählt jedoch nur die Leute, die tatsächlich zu unseren Beratungen kommen.“
„Die Dunkelziffer der Menschen im Bezirk, die an Spielsucht oder den Folgen von Drogen– und übermäßigen Alkoholkonsum leiden, ist natürlich um ein Vielfaches größer“, erklärt Lars Behrend, der sich die Beratungsarbeit in der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle Marzahn-Hellersdorf mit sechs weiteren Kollegen teilt. Die Beratungen sind unabhängig, kostenlos, freiwillig und auf Wunsch auch anonym. Das Angebot richtet sich zudem auch an Partner und Angehörige von drogensüchtigen Menschen und vermittelt unter anderem Fachärzte, psychosoziale Angebote sowie Entgiftungs- und Therapieangebote.
Zwei bis drei Wochen warten Klienten auf einen Krankenhausplatz für eine Entgiftung – zwei bis drei Monate beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz.
„Unsere Arbeit geschieht in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachbereichen des Bezirksamtes. Kooperationen mit dem Jugendamt, dem Sozialamt und dem Gesundheitsamt sind grundlegend wichtig“, erläutert Behrends. Ove Fischer, Suchthilfekoordinator ist dabei einer der direkten Ansprechpartner im Marzahn-Hellersdorfer Bezirksamt. Sein großes Problem ist die personelle Überlastung der einzelnen Fachbereiche. „Allein das Jugendamt stößt ständig an personelle Grenzen“, weiß Fischer, der auch die Verteilung der Senatsmittel an die Suchtberatungsstelllen einzelnen Berliner Bezirke kritisiert. Die Einrichtungen erhalten Geld in der Pro-Kopf-Berechnung der einzelnen Bezirke: Einwohnerstarke Bezirke erhalten mehr, einwohnerschwache Bezirke weniger Geld.
Suchtberatung rettet Menschenleben
„925.000 Euro werden im Rahmen des Psychiatrie-Entwicklungs und Sozialprogramms vom Senat ausgeschüttet. Berücksichtigt werden dabei nicht der tatsächliche Aufwand, den die steigenden Fallzahlen nach sich ziehen“, erläutert der Suchtkoordinator vor dem Fachausschuss des Marzahn-Hellersdorfer Bezirksparlaments. Die fehlenden Kapazitäten haben Konsequenzen für Therapien und direkte Hilfen für Drogensüchtige und deren Angehörige. „Eine qualitative Verbesserung unserer Arbeit, die wir brauchen, um uns den neuen Entwicklungen anzupassen, können wir nicht stemmen“, sagt Lars Behrends, der darauf verweist, dass die Arbeit der Suchtberatungsstellen in der Vergangenheit viele Tausend Menschenleben gerettet habe.
Bezirke und Wohlfahrtsverbände fordern mehr Geld und Personal fordern
Die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, unter deren Regie die Suchtberatungen in Berlin durchgeführt werden, fordert bessere Perspektiven und Planungssicherheit auch hinsichtlich der wachsenden Stadt Berlin. „Suchtberatung ist in Berlin eine Pflichtleistung der Gesellschaft. Beratungen in gesundheitlichen und gesellschaftlichen Krisensituationen sind wichtiger denn je. Für eine Sicherstellung der Suchtberatungsstellen als Grundversorgung auch in Marzahn-Hellersdorf ist eine angemessene und einheitlich geregelte Personalausstattung unumgänglich“, lautet deshalb das Fazit der Fachverbände der freien Wohlfahrtsverbände in Berlin, das sie in einem Grundsatzpapier den politischen Entscheidern vorgelegt haben.
Suchtberatungs- und Behandlungsstelle Marzahn-Hellersdorf, Alt-Marzahn 59, Telefon 54?98?86?40 (Mo 9-12, Di 9-12, Mi 13.30-17, Do 15-17 Uhr) und auf www.wuhletal.de/Suchtberatung.html
vista – Drogen- und Suchtberatung Marzahn-Hellersdorf, Im Gesundheitszentrum Springpfuhl, Allee der Kosmonauten 47, Telefon 290?27?81?81, Mo/Di/Do 10.30-17, Mi 13.30-18 Uhr und auf
https://www.vistaberlin.de/einrichtungen/drogen-und-suchtberatung-marzahn-hellersdorf/
Datum: 9. August 2021, Text: Stefan Bartylla, Symbolbild: IMAGO photothek/Liesa Johannssen