Schuhmacher

Ilhan Alkan und sein Geschäft erzählen Geschichten aus vielen Jahrzehnten.

Für die meisten Berliner gehören sie so sehr zum Alltag, dass man kaum über sie nachdenkt. Sie schützen vor Dreck und Kälte, sind Mode-Accessoire und Sport-Begleitung. Für Ilhan Alkan sind sie zwar auch Alltag, aber nicht alltäglich. „Schuhe sind etwas ganz Besonderes“, sagt er, während er – wie fast immer – hinter dem Holztresen in seinem Laden am Checkpoint Charlie steht. In dem Geschäft an der Kochstraße riecht es nach Leder und Gummi. Auch Geschichte und viel körperliche Arbeit liegen in der Luft. Seit fast 25 Jahren gibt es den Laden an diesem Ort schon, und er ist anders, als die der meisten anderen Schuhmacher, die sich dem alten Handwerk verschrieben haben.

Kleine Zeitreise

An der Wand hängt ein Foto von James G. Boatner, dem amerikanischen Generalmajor von 1981 – ein persönliches Dankeschön. Alkans Schuhmacherei ist eine Reise durch die Zeit, zurück in die 80er-Jahre, als Deutschland noch geteilt und Berlin von den Alliierten besetzt war. Wie es sich anfühlte, für die Amerikaner zu arbeiten? Alkan plaudert aus dem Nähkästchen, oder eher aus dem Schuhkarton, und erzählt dabei auch seine Lebensgeschichte. Im Jahr 1958 wurde er in einem kleinen Dorf in Ostanatolien geboren. Aufgewachsen ist er in Istanbul. Mit elf Jahren fing Alkan seine Ausbildung an. „Wir sagen immer kleine Arbeit“, lacht er. Kinderarbeit, würde heute manch einer behaupten. Mit 21 heiratete Alkan, kurz darauf kamen seine schwangere Frau und er nach Kreuzberg. Zu dieser Zeit erlebte nicht nur die Stadtgeschichte, sondern auch die Bevölkerungsstruktur einen Wandel: West-Berlin als Mekka für Studenten und Menschen auf der Suche nach alternativen Lebensstilen. Die Arbeitslosigkeit war hoch, der Arbeitsmarkt unbeständig. „Jeder wollte für die Alliierten arbeiten“, so Alkan.

Ein gutes Leben

Er hatte Glück, im Jahr 1981. Im amerikanischen Sektor, Clayallee, Ecke Saargemünder Straße, wurde ein Schuhmacher gesucht. „Ich konnte kaum Deutsch, aber ich kann meinen Beruf“, sagt Alkan, „Dieser Beruf hat seine eigene Sprache.“ Alkans tüchtige Arbeitsmoral hat sich damals bewährt: nach wenigen Jahren wurde er zum Meister, lernte Soldaten von allen Kontinenten kennen. „Das war eine schöne Zeit“, erinnert er sich. Stiefel aus dem Zweiten Weltkrieg besohlen, Absätze von Soldaten-Ehefrauen ankleben, Kinderschuhe herstellen. Vom Kalten Krieg habe er nicht viel mitbekommen, er und seine Familie hätten ein gutes Leben gehabt. Dann fiel die Mauer, die Vorbehaltsrechte erloschen, die Amerikaner wurden abgezogen. 1994 eröffnete er dann schließlich sein eigenes Geschäft. Individuell erneuern, reparieren, anfertigen, maßschneidern: Das Handwerk hat sich nicht wirklich verändert. Und die Nachfrage? „Jeder braucht Schuhmacher“, lacht Alkan. Aber der Beruf sei mittlerweile unbeliebt: schmutzig und anstrengend, das wolle heute kaum noch jemand.

Obwohl Schuhläden an jeder Ecke aus dem Boden sprießen und Schuhmachereien fast Raritäten sind, glaubt Alkan nicht, dass das Handwerk ausstirbt. Er habe genug Kunden, sagt er, Stammkunden, die immer wieder kommen würden, auch aus München und Frankfurt. „Nur billige Schuhe kommen nicht zu mir“, sagt er. Alkan ist genügsam und bescheiden. Er arbeitet viel. Nach Istanbul, wo er aufgewachsen ist, reist er nur alle zwei Jahre. „Ich bin ein richtiger Berliner“, sagt er. Und das schönste an seinem Beruf? Dass jeder Schuh eine Geschichte mit sich trägt. „Von jedem Schuh lerne ich etwas Neues.“ Dabei schaut ihm Generalmajor James G. Boatner von seinem Bilderrahmen aus nun seit 24 Jahren zu.

Text/Bild: Christina Lopinski