Jemand steckt einen Umschlag in eine Wahlurne.
Einwurf der Stimmlzettel in eine Wahlurne in Berlin am 26. September 2021. Bild: Imago/Emmanuele Conti

Teilweise Wiederholung der Bundestagswahl in 431 Wahlbezirken, wahrscheinlich komplette Wiederholung der Wahlen zu Abgeordnetenhaus und Bezirksparlamen-ten: Die Berliner sollen wählen, wissen aber nicht wen und wann.

Zeitweise Schließung von Wahllokalen, falsche oder unvollständige Wahlunterlagen, Stimmabgaben bis weit nach 18.30 Uhr: Was das Land Berlin am 26. September 2021 mit den Wahlen zu Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) demonstriert hat, grenzte an Staatsversagen. Das war Versagen in einer ganz zentralen Funktion: Der Staat als Garant demokratischer Wahlen. Genau so skandalös ist, dass sich bis heute niemanden gefunden hat, der für dieses Desaster die politische Verantwortung übernehmen wollte. Und dass dieses Staatsversagen weiter anhält.

Beispiel Bundestagswahl

Der jüngste Beschluss des Bundestages, die Wahlen in 431 Berliner Wahlbezirken zu wiederholen, ist nicht das Ergebnis nüchterner Ursachenforschung, sondern parteipolitischer Absprachen innerhalb der Ampelkoalition. Ein Kompromiss zwischen der FDP, die die Wahl gerne in noch weniger und der SPD, die sie lieber in weitaus mehr Wahlbezirken wiederholt hätte. Was im Übrigen auch die Oppositionsfraktionen von CDU und AfD fordern. Betroffen jetzt wären 327 der 2256 Direkt-Wahlbezirke sowie 104 der 1507 Briefwahlbezirke. Die Wiederholung soll sowohl für die Erst- als auch die Zweitstimme erfolgen.


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Vor allem im Wahlkreis 76 (Pankow), im Wahlkreis 80 (Charlottenburg-Wilmersdorf) und im Wahlkreis 83 (Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost) wären viele Wahllokale von dem Beschluss betroffen. Laut dem unabhängigen und überparteilichen Informationsdienst Wahlrecht.de wären die Auswirkungen einer Bundestagsneuwahl in Berlin auf die Zusammensetzung des Bundestags marginal, auch die Linke dürfte ihre beiden in Berlin gewonnenen Direktmandate behalten.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Patrick Schnieder hat im ZDF gesagt, dass es jetzt am Bundesverfassungsgericht sei, „diese falsche Entscheidung zu korrigieren“. Es ist also davon auszugehen, dass gegen den Bundestagsbeschluss in Karls-
ruhe Einspruch eingelegt wird. Nimmt das Gericht die Klage an, wäre eine Wahlwiederholung erst nach einem Urteil möglich. Es kann also durchaus passieren, dass erst 2024 gewählt wird.

Beispiel Berlin-Wahlen

Für die Überprüfung von Wahlen für Abgeordnetenhaus und BVVen ist in Berlin das Landesverfassungsgericht zuständig. Wenn der Gerichtshof am 16. November (zwei Tage nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) mit hoher Wahrscheinlichkeit anordnen wird, dass die Berlin-Wahlen komplett zu wiederholen sind, bliebe dafür laut Landeswahlleiter, Stephan Bröchler, eine Frist von 90 Tagen Zeit. Spätester Wahltermin wäre dann der 12. Februar kommenden Jahres.


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Doch es gibt zahlreiche Gründe, daran zu zweifeln, dass es dazu wirklich kommt. Eine unrühmliche Rolle dabei spielt ausgerechnet die Senatsinnenverwaltung. Also jene Behörde, die für das Wahldesaster politisch zuständig war und ist. Einige ihrer Vertreter waren sich unmittelbar nach einer Anhörung nicht zu schade, den unabhängigen Landesverfassungsrichtern mangelnden Sachverstand vorzuwerfen.

Jetzt forderte die Innenverwaltung in einem öffentlich gewordenen Schreiben die Richter sogar auf, die Entscheidung über eine Wahlwiederholung ans Bundesverfassungsgericht abzugeben. Der Staat setzt ein unabhängiges Gericht unter Druck! Was man bislang nur in Quasi-Autokratien wie Ungarn für möglich gehalten hat, passiert jetzt auch in Berlin. Respekt vor der verfassungsgemäßen Gewaltenteilung sieht anders aus.

Wann wird gewählt?

Das ist nicht die entscheidende Frage. Entscheidende Fragen sind: Wer wählt wen? Darf jemand mitwählen, der neu in einen betroffenen Wahlbezirk gezogen ist, in einem anderen aber gültig gewählt hat? Was ist mit jenen Menschen, die erst nach dem 26. September 2021 zu Wahlberechtigten wurden? Und wer steht auf den Wahllisten bei einer Wahlwiederholung? Ein abgewählter Bezirksbürgermeister von Mitte wie Stephan von Dassel? Oder der Ex-Spitzenkandidat der Freien Wähler, Marcel Luthe, der sich längst schon wieder anders orientiert? Fragen über Fragen! Nur eines ist sicher: Das Chaos hat noch lange kein Ende.

Text: Ulf Teichert