Andrea Milde verwebt Wollfäden zu großen Bildergeschichten
Mit dem Wort Tapisserien kann heute kaum noch jemand etwas anfangen. Siebdruck scheint die Bildweberei abgelöst zu haben. Wandteppiche hängen höchstens noch in Museen, Königshäusern oder in Schwarz-Weiß-Filmen. In einer Wohnung nahe des S-Bahnhofs Lichtenberg scheinen die Uhren anders zu gehen: Andrea Mildes Heim ist Werkstatt und Wolllager zugleich. Ein Quell der Inspiration, Ort eines Arbeitsprozesses, der ihren Lebensweg widerspiegelt. Vergangenes Jahr kam die Bildweberin zurück aus Spanien, wo sie 25 Jahre lang lebte. Heute orientiert sie sich neu in einer Stadt, die vor Wandel und Schnelllebigkeit nur so strotzt.
„Ich fand es immer schon schön, mit den Händen zu arbeiten. Du hast keine vorgegebene Dimension, du erschaffst etwas“, sagt sie und erzählt von ihrer Jugend in Ennepetal. Die Liebe und ihr Talent für Kunst entdeckte sie schon in der Schule. Dass ihre Leidenschaft gleichzeitig Berufung ist, stellte sie nach dem Abitur, auf einer Reise nach Guatemala, fest. Sie konnte kein Spanisch, die Südamerikaner sprachen kein Deutsch. „Es hat mich fasziniert, wie die Frauen Sachen herstellen und damit Kultur weitergeben.“ Textil nicht nur als Identität, sondern auch als Form der Kommunikation. Vielleicht fühlt sich Andrea Milde auch deshalb eher als Malerin. Eine Mischung aus Weben und Malen, das war ihr Traum. „Ich wollte Geschichten erzählen, die Menschen in den Fäden lesen können.“
Momente einfrieren
Über Umwege bekam sie ein Stipendium für eine kunsthandwerkliche Ausbildung in Frankreich, dann zog sie nach Spanien. Das habe sie auf der Landkarte angelacht. Milde ist Freigeist, Globetrotter und Weltbürger. Den Stereotyp des Berufsbildes erfüllt sie nicht, wahrscheinlich, weil sie weder in Schubladen denkt, noch Grenzen kennt.Andere Infrastruktur. Ihre Inspiration ist die Alltagslandschaft. Milde liest die Straße, möchte „einen Moment einfrieren“.
Das Einfrieren dauert lang und braucht Geduld. Um 90 Grad gedreht und spiegelverkehrt spannt die Künstlerin ihre Fäden. Vom Entwurf bis zum Fadenbild dauert es mindestens sechs Monate. Für ihr jüngstes Werk hat sie drei Jahre gebraucht. Aber wer zahlt für ein Produkt einen Dreijahreslohn plus Unikatzuschlag? Kein Wunder, dass Milde Verfechterin des bedingungslosen Grundeinkommens ist: „Handwerk braucht eine andere Infrastruktur, als die Gesellschaft sie heute bietet.“ Deshalb gäbe es viele Handwerke gar nicht mehr. Milde ist Aktivistin und Visionärin. Sie träumt von einer gesellschaftlichen Wertschätzung des Immateriellen und von offenen Werkstätten.
Das Handwerk müsse wieder in die Gesellschaftsstruktur zurückkehren, es würde so sehr gebraucht. Deshalb geht sie mit ihrer Arbeit gern auch an die Öffentlichkeit. „Weil es leichter ist, die Werkstatt zu den Menschen zu bringen, als die Menschen in die Werkstatt.“ Mit ihrem Webbock sitzt sie an den unterschiedlichsten Orten, lädt Interessierte ein, zuzusehen, möchte das Handwerk öffnen und damit die gesamte Kunst. Weil Fäden Geschichten erzählen und Menschen verbinden. Fernab von Kultur, Bildung, Alter oder Geschlecht.
Datum: 5.8.2018 Bilder: Stefan Bartylla Text: Christina Lopinski