Mit der Neugestaltung der Reichshauptstadt Berlin wollte Hitler seinen Anspruch auf Weltherrschaft zementieren. Was ist vom „Mythos Germania“ geblieben? Eine Spurensuche.
Knöcheltief steht das Wasser, im Schein unserer Taschenlampen schimmert es wie eine rostbraune Brühe. Wir gummistiefeln hindurch, ohne dass die Sohlen den Kontakt zum Boden verlieren. Sicherer ist das. Der Untergrund ist uneben, an manchen Stellen löchrig. Sanft wellt sich das Wasser ins Dunkel. Die Luft ist stickig, sie riecht modrig.
An diesem seltsamen Ort drängt sich die Frage auf: Was wäre, wenn Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte? Dann rollten hier unten, in diesem Tunnel, der fast 15 Meter breit und etwas mehr als viereinhalb Meter hoch ist, Tag und Nacht Autos. Und dort oben, auf der Straße, sieben bis acht Meter über uns, paradierten zu Gedenktagen Wehrmachtssoldaten.
Drei tote Tunnel
Sascha Keil leuchtet ins Dunkel. „Wir stehen in einem der letzten begehbaren unterirdischen Bauten im Rahmen der sogenannten Neugestaltungsmaßnahmen für die Reichshauptstadt“, sagt der Historiker, „direkt unter der Straße des 17. Juni, auf Höhe des Sowjetischen Ehrenmals.“ Keil ist Mitglied im Verein Berliner Unterwelten, der die Geschichte des Berliner Untergrunds erforscht.
Zwei weitere tote Tunnel liegen nebenan, nur wenige Meter in östlicher Richtung: der eine auch für Autos, der andere für eine U-Bahn. Als Bestandteile der „Welthauptstadt Germania“ stehen diese „Neugestaltungsmaßnahmen“ unter Federführung von Albert Speer, dem Chefarchitekten Hitlers, in den Geschichtsbüchern.
Um mehr über diese Maßnahmen zu erfahren, begeben wir uns in den Wedding. In einer Zwischenetage im U-Bahnhof Gesundbrunnen befindet sich die Dauerausstellung „Hitlers Pläne für Berlin: Mythos Germania – Vision und Verbrechen“, betreut vom Verein Berliner Unterwelten. Hoch ragt die Ausstellungshalle auf, lang zieht sie sich.
Hier wird Aufklärung geleistet
Im Mittelpunkt steht ein Modell. Es zeigt Berlin nach den Vorstellungen von Hitler und Speer: eine Stadt für eine gleichgeschaltete Gesellschaft, die, wie die Historiker Schaulinski und Dagmar Thorau in „Mythos Germania“ schreiben, „den Nationalsozialismus als Nukleus und Ziel ihres Daseins begreifen sollte“. Alexander Kropp blickt über das Modell, er ist einer der Autoren der Ausstellung.
„Mit der Welthauptstadtplanung von Albert Speer verbinden sich viele Mythen“, sagt der Historiker. „Ziel dieser Ausstellung ist es, diese Mythen zu dekonstruieren, im klassischen Sinne Aufklärungsarbeit zu leisten.“ Schon der Begriff „Welthauptstadt Germania“ sei ein Mythos. „Es gibt zwei Zitate von Hitler, beide geäußert im Führerhauptquartier“, erklärt Kropp. „Einmal spricht er von einer Welthauptstadt, ein anderes Mal von Germania.
Kein unpolitischer Technokrat
Beide Versatzstücke sind in den Memoiren von Speer, im Klappentext, zusammengefügt worden.“ Ein weiterer Mythos: Speer selbst. „Speer hat sich immer als unpolitischer Technokrat präsentiert“, sagt Kropp. „Er war aber viel tiefer in die NS-Vernichtungsmaschinerie, die Judenverfolgung und die ,Endlösung’ verstrickt, als er glauben machen wollte.“
Das war er nicht erst als Reichsminister für Bewaffnung und Munition ab 1942, sondern schon als „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt“, der mit Ministerkompetenzen die Neugestaltung Berlins 1937 begann und 1950 beenden sollte. Alle Arbeiten wurden nach dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad im Februar 1943 eingestellt.
Sieben Kilometer langes Teilstück
Zwei Magistralen als Bühne für Aufmärsche sollten Berlin prägen: die Nord-Süd-Achse als „Siegesallee des III. Reiches“ mit Großer Halle und Triumphbogen, ein 120 Meter breiter Boulevard, der einen Nordbahnhof in Moabit mit einem Südbahnhof in Tempelhof verbinden sollte.
Und dann war da noch die Ost-West-Achse geplant, die von Wustermark über Heerstraße, Großer Stern, Brandenburger Tor, Unter den Linden, Frankfurter Tor und Frankfurter Allee verlaufen sollte. Ein sieben Kilometer langes Teilstück der Ost-West-Achse konnte Speer 1939 fertigstellen: mit der Siegessäule, die er vom Königsplatz vor dem Reichstag auf den Großen Stern versetzen und um 7,5 Meter erhöhen ließ, und einer Straßenbeleuchtung aus zweiarmigen Kandelabern – zwischen Theodor-Heuss-Platz und S-Bahnhof Tiergarten stehen noch 800 dieser Lampen.
Und auch das ließ Speer bauen: drei Tunnelstutzen unter dem Tiergarten, am Schnittpunkt von Nord-Süd- und Ost-West-Achse – zwei für den Straßenverkehr, den dritten für eine U-Bahnlinie G zwischen Lübars und Marienfelde.
Stabiltät für das Bauwerk
Kehren wir zurück in den Tunnel unter dem Tiergarten. Sascha Keil leuchtet in die Vergangenheit: An den Wänden des Lüftungsschachtes, den wir hinabgestiegen sind, befinden sich Vorrichtungen für einen Ventilator. Auf dem Boden, uneben und bepfützt, liegen Backsteinreste eines Treppensockels.
Auf dem Boden am südlichen Ende des Tunnels glänzen die Enden von Stahlträgern, die tief in der Erde ankern, um dem Bauwerk Stabilität zu geben. Der 87 Meter lange Tunnel, der sich nach Osten krümmt, liegt seit 1938 unter dem Tiergarten. Neben ihm ruht sein etwa gleich langer Zwilling, vier Meter tiefer und sich nach Westen neigend.
Der Kriegsverlauf führte dazu, dass beide Tunnel Rohbauten blieben, ebenso wie der etwas weiter östlich liegende, 220 Meter lange und 16 Meter tiefe U-Bahn-Tunnel. In der Tunnelsenke, in der das Wasser steht, teilt eine unvermutete Backsteinwand mit zwei Durchlässen das Bauwerk. Dahinter steigt der Tunnel wieder an. Wie am südlichen Ende ist auch dort der Boden trocken.
Kleinteile für die Rüstungsindustrie
„Das Wasser in der Senke ist Regenwasser, es kommt durch den Lüftungsschacht“, sagt Sascha Keil. „Der Bau ist dicht. Das erstaunt Architekten und Ingenieure heute noch.“ Der Tunnel hat in den letzten Kriegsjahren vermutlich einen Zweck erfüllt: „Hier wurden Kleinteile für die Rüstungsindustrie produziert“, sagt Sascha Keil.
Er leuchtet auf den Boden, wo sich Reste von Maschinensockeln zeigen, an die Decke, wo noch eine Lampe hängt, an die Wand, wo sich eine Nische für Feuerlöscher befindet. Für wahrscheinlich hält Keil, dass der Tunnel auch als Luftschutzraum diente.
Das größte Gebäude der Welt
Hitler wollte mit der neuen Reichshauptstadt seinen Anspruch auf Weltherrschaft zementieren. Als das Symbol für den Größenwahn steht die Große Halle. Der Koloss sollte über dem Spreebogen thronen, dort, wo sich heute der Hauptbahnhof und die Verwaltungsgebäude des Bundestags befinden.
Mit einer Grundfläche von 300 mal 300 Metern und einer Höhe von 320 Metern (gut viermal so hoch wie der Reichstag) wäre diese Halle das größte Gebäude der Welt geworden, ein Gebäude für 180.000 „Volksgenossinnen und -genossen“, die ihrem „Führer“ huldigen. Der „Adolf-Hitler-Platz“ davor sollte Versammlungsort für eine Million Untertanen sein.
Die gebaute Unsicherheit
Gebaute Unsicherheit. Wie akribisch die Stadtplaner vorgingen, davon zeugt der „Schwerbelastungskörper“. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nach Tempelhof. Ecke General-Pape-Straße/Loewenhardtdamm steht der – so spotten die Berliner – „Nazi-Klops“: ein 18,2 Meter tief steckender Zylinder mit fast 11 Metern Durchmesser, darauf ein zweiter, 14 Meter hoher Zylinder mit 21 Metern Durchmesser.
Der Zweck des Bauwerks aus Beton und Stahlbeton, 12.650 Tonnen schwer (das entspricht dem Gewicht von 22 Großraumflugzeugen des Typs Airbus A380), bestand darin, die Tragfähigkeit des Berliner Untergrunds festzustellen. Michael Richter führt uns in den Zylinder. „Was wir hier haben, ist die gebaute Unsicherheit“, sagt der Architekt.
Auch er ist Mitglied des Vereins Berliner Unterwelten. „Die Ingenieure waren sich damals nicht sicher, ob und wie sie so etwas Schweres bauen können.“ So etwas Schweres wie den Triumphbogen auf der Nord-Süd-Achse: 117 Meter hoch, 170 Meter breit. In sein Gestein sollten die Namen aller im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten eingemeißelt sein.
Der Zylinder belastet den Boden mit 12,65 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Nichts hätte den Berliner Boden – Sand, Kies und Geschiebemergel – mehr belastet als dieser Triumphbogen: 116 Tonnen hätten auf einen Quadratmeter gedrückt – auf 92 Tonnen hätte es die Große Halle gebracht.
Zeichen des Sieges
Kehren wir zurück unter den Tiergarten. Wir gehen in den nördlichen Teil des Tunnels, der sich gen Osten krümmt. An den Wänden prangen rostbraune Streifen, hüfthoch. Sie bezeugen den Wasserstand 1967, als die Tunnel bei der Aufforstung des Tiergartens wiederentdeckt wurden.
Mit Trümmerschutt und Munitionsschrott waren die Lüftungsschächte verstopft, sodass das Wasser, das von dort gekommen war, nicht verdunsten konnte. Am Ende des Tunnels gähnt einer der beiden Schächte. Er ist mit einer Betonplatte versiegelt. In ihm steht eine Steintreppe, sehr steil, sehr ausgetreten.
„Jetzt stehen wir direkt unter dem Sowjetischen Ehrenmal“, sagt Sascha Keil. „Dass es auf der damaligen Siegesallee steht, ist kein Zufall. Genau hier wollte Stalin seinen Fußabdruck hinterlassen, als Zeichen seines Sieges.“
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Datum: 14. Januar 2021, Text: Dr. Michael Brettin, Foto: imago images/Sabeth Stickford