Wenn der Fortschritt an Grenzen stößt.
Wo ist das Fieberthermometer? Mit dieser Frage begann die Geschichte. Eben noch einfache Gliederschmerzen, glüht jetzt der Kopf, rast der Puls. Der vermeintliche Fieberschub verlangt nach Klarheit. Das Thermometer wird gefunden. Doch die Batterie ist leer. Jetzt wird es hektisch. Da lag doch irgendwo noch ein zweites rum? Doch auch das ist platt. Die Schmerzen werden stärker, das gefühlte Fieber steigt. Zumal am Sonntag Drogerie oder Apotheke um die Ecke geschlossen sind. Was tun? Der Jüngste in der Familie holt sein Smartphone hervor und erklärt, es gäbe da die App „Messen Sie Fieber“ für 99 Cents. Ein Hoffnungsschimmer. Der Nutzer muss nur seinen Finger in den Kreis auf dem Display legen. Wenn schon die elektronischen Thermometer versagen, tut‘s vielleicht modernste Mikroelektronik. Vielleicht aber auch nicht, denn die gefundenen Apps erbringen keine ernst zu nehmenden Ergebnisse. Die Schmerzen der Patientin steigen mit jedem Fehlversuch. Um Deeskalation bemüht und um für Beruhigung zu sorgen, rufe ich beim ärztlichen Bereitschaftsdienst der KVB an. Warten, Bangen, Hoffen – bis endlich jemand ran geht. Schmerzen? Wie hoch ist das Fieber? Auf diese Frage kann ich keine Antwort geben. Nach meinem stotternden Versuch die Situation zu erklären, würgt mich der Notarzt ab. Er habe Wichtigeres zu tun, als aus der Ferne Fieber zu schätzen. In diesem Moment fällt mir unsere Nachbarin ein. Sie ist über 80. Vielleicht hat sie ja noch ein Quecksilber-Thermometer? So etwas übersteht viele Umzüge aus gutem Grund. Und tatsächlich findet Frau P. die rotbraune Papphülle mit dem Thermometer aus Jenaer Glas darin. Ich mache es kurz: Die Messung ergibt 39,1 Grad. Kein Grund zur Panik. Wir brechen am Montagmorgen auf. Sie zum Hausarzt, ich zur Apotheke. Meine Fortschrittsgläubigkeit hat einen Knacks bekommen. Ich frage den Apotheker am Alex, ob er mir noch ein Quecksilber-Thermometer verkaufen kann. Er schaut mich an, als habe ich mich von einem anderen Stern nach Mitte verirrt. Seit 2007 dürfen solche Teile nicht mehr verkauft werden. In der untersten Schublade findet er noch ein (!) vergleichbares Thermometer, ungiftig, mit Gallium gefüllt. Geratherm Classic für 4,95 Euro. Am liebsten hätte ich gleich zwei mitgenommen. Ein wunderbares Geschenk für die junge Nachbarin mit den beiden Kindern, wenn sie demnächst wieder bei mir klingelt, weil ihre elektrischen Fieberthermometer mal wieder nicht funktionieren.
Fritz Zimmermann