Kunstaktion: Millionen bestaunten das verhüllte Reichstagsgebäude.

Der Anblick ist spektakulär: Heftig zerrt der Wind am silbrig-glänzenden Gewebe, wirft kraftvolle Falten, im gleißenden Sonnenlicht stürzt ein Wasserfall herab, ständig bilden sich neue Muster, neue Formen. Sprachlos staunend umrunden die Menschen das fremde Gebäude. Allein drei Millionen Touristen pilgerten zum „Wrapped Reichstag“, der vom 24. Juni bis 7. Juli 1995 gänzlich umhüllt war. Ganz zu schweigen von den Hunderttausenden Berlinern.Ein Kunstprojekt der besonderen Art, inszeniert von Christo und Jean-Claude. Fast ein Vierteljahrhundert hatte das international renommierte Künstlerpaar darauf hingearbeitet. Auf 54 Deutschland-Reisen sprach es mit Hunderten Abgeordneten, verteidigte Qualität und Unabhängigkeit seines Projekts. Doch vier Bundestags-Hausherren wehrten sich standhaft, fürchteten um die „Würde des Parlaments“. Erst Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) bot 1991 Unterstützung an. Am 25. Februar 1994 gaben die Abgeordneten grünes Licht für den „Wrapped Reichstag“. Einige sahen darin ein wichtiges Signal, bisherige Konventionen zu überwinden: „Lassen Sie uns diese neue deutsche, demokratische Gelassenheit durch ein großes Symbol für 14 Tage beweisen“, sagte der SPD-Abgeordnete Freimut Duve. Christo und Jean-Claude legten los. Weber im nordrhein-westfälischen Emsdetten, Seiler in Bremen, Eisengießer im brandenburgischen Eisenhüttenstadt fertigten das Material. Dann, Mitte Juni 1995, warfen 90 Kletterer und 120 Monteure die 100.000 Quadratmeter glänzenden Gewebes über den Reichstag, befestigten es mit 15 Kilometern blauem Seil, beschwerten es mit 1.000 Tonnen Eisenbarren. Für die meisten der 1.200 Helfer aus aller Welt war die Mitarbeit freiwillige Ehrensache.

Jürgen Zweigert, Bild: imago/Seeliger