Hände reichen, Initiative ergreifen – Sammeln von Zeitgutschriften könnte ein Modell mit großer Zukunft werden.
Alte Bäume verpflanzt man nicht – und auch ältere Menschen trennen sich nur ungern von ihrem gewohnten Umfeld. Hier kennen sie sich aus, hier sind die Nachbarn, hier ist ihr Zuhause. Doch was tun, wenn das Treppensteigen schwerer fällt, die Hausarbeit mehr und mehr belastet, der Weg zum Einkauf, zum Arzt, zur Apotheke zum Problem wird, der Garten brach liegt? Wenn die Mobilität nachlässt, tut Hilfe Not. Häufig zwingt steigender Hilfebedarf dazu, sein Zuhause zu verlassen – letzte Ausfahrt Pflegeheim. Ein Weg, den die meisten Menschen am liebsten gar nicht gehen wollen oder doch so lange wie möglich hinaus zu zögern versuchen.
Eine Kostbarkeit
„Zeitvorsorge“ kann helfen. Zeit ist in unserer hyper-mobilen und hektischen Gesellschaft eines der kostbarsten Güter. Wer sie heute sinnstiftend einsetzen möchte und anderen Menschen hilfreich unter die Arme greift, kann sie morgen – wenn seine Kräfte nachlassen – für den eigenen Hilfebedarf zurückholen. Nach diesem einfachen und unbürokratischen Prinzip werben bereits etliche Vereine und Projekte im Land um Menschen, die heute anderen helfen, um später von ihrem Engagement zu profitieren. Noch bewegen sich die Zeitvorsorgenden in einer Nische, doch das Sammeln von Zeitgutschriften wird populärer.
In Reinickendorf haben Christine Nawrath und Thomas Lieske das Projekt „Zeitvorsorge“ auf die Beine gestellt. „Die Zahl der Senioren wächst rasant, tradierte Strukturen familiärer Geborgenheit brechen weg, staatliche Hilfen sind oft unzureichend, Altersbetreuung wird schlecht bezahlt“, sagt Lieske. Und auch die viel gepriesene Solidarität zwischen Alt und Jung hält ihr Versprechen im Alltag nicht; das Ehrenamt bleibt eine Einbahnstraße, die Bereitschaft sinkt. Was also tun, wenn die Nöte des eigenen Seins das Bewusstsein bestimmen und man blind wird für die Nöte der anderen?
Gemeinsame Ziele
„Wir haben nach einer neuen Form verbindlicher Unterstützung im Alter gesucht, die das Füreinander und Miteinander in den Mittelpunkt stellt und den Einstieg in ein soziales Engagement erleichtert“, erklärt Lieske. Eine Form, in der nach dem Genossenschaftsprinzip Geben und Nehmen tragende Teile sind. Wenn der Zeit-Gebende weiß, dass sein Aufwand nicht verpufft, sondern er ihn irgendwann zurückholen kann, ist er garantiert engagierter dabei – so sein Kalkül. Zumal das Zeit-Guthaben sowohl in eigenen Hilfeleistungs-Bedarf umgemünzt, als auch ausgezahlt werden kann. Lieske: „Es ist unser Ziel, Helfer und Hilfesuchende zusammen zu bringen. Später soll daraus eine gemeinnützige Gesellschaft entstehen, in der wir uns gegenseitig mit alltäglichen Hilfen unterstützen.“ Das auch über Reinickendorf hinaus.
Noch ist die Zahl der mitmachenden Zeitvorsorger und Leistungsbezieher überschaubar. Das Projekt-Team wirbt um Aufmerksamkeit und will sein sinnstiftendes, solidarisches und nach einem Leistungskatalog klar strukturiertes Anliegen in die Breite bringen. Lieske: „Viele wissen gar nicht, was wir tun. Doch wer Bescheid weiß, wird schnell überzeugt sein. Wer Hilfe benötigt, soll sich melden. Wer helfen will, auch.“
Jürgen Zweigert, Bild: istockphoto/ oneinpunch