In früheren Zeiten war die Lage ziemlich klar: Es gab Kleidung für den Job und funktionale Sportkleidung, die also der Freizeit vorbehalten bleiben. Diese Grenzen sind inzwischen kaum noch wahrnehmbar.
Das Bonmot des Modezars Karl Lagerfeld von 2012 „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“ wirkt wie aus einer fernen Vergangenheit. Denn heute ist der Büro-Alltag geprägt von Athleisure, also der funktionalen, sportlichen Kleidung, die eben auch im Büro oder in der Bar tragbar ist.
Los ging der Trend bereits Mitte der 2010er-Jahre, die coronabedingten Homeoffice-Zeiten haben ihr Übriges zu dessen Verstärkung beigetragen.
In Zeiten von Omikron und Dreifach-Impfung sind die Büros mittlerweile fast wieder zur vollen Präsenzbesetzung zurückgekehrt – und niemand erkennt es als Fauxpas, wenn man sich dort anstelle der Lederhalbschuhe lieber für die bequemen Sneakers entscheidet. Die perfekte Symbiose aus Athletics und Leisure eben, also Athleisure
Zum Workout oder ins Büro?
Warum nicht erst das eine, dann das andere? Sportkleidung vereint Design, Komfort und Funktionalität so perfekt, dass sie nicht nur aus einer der wachstumsstärksten Branchen stammt, sondern zu den wichtigsten Inspirationsquellen der Modemacher gehört.
Ein Resultat sind atmungsaktive Tops oder Yoga-Pants, die im Büro ebenso getragen werden können wie im Fitnessstudio oder daheim auf dem Sofa. Heute gibt es kaum noch ein Label, das diesem Trend nicht folgen möchte. Stone Island Jogginghosen zum Beispiel lassen sich so kombinieren, dass sie auch bei einem wichtigen Kundentermin tragbar sind.
Auch andere große Labels schicken sich an, die arbeitende Bevölkerung mit bequemer wie stylischer Kleidung für den Arbeitsalltag auszustatten. Die Balenciaga Triple S machen mit ihrem ergonomischen Fußbett sogar den Fußweg ins Büro zu einem bequemen Spaziergang.
Und es sind bei weitem nicht nur die angesagten Top-Labels, die den Athleisure-Trend prägen. Ein Blick in die aktuellen Kollektionen von H&M bis C&A genügt für den Eindruck, dass es sich hierbei um weit mehr als nur einen kurzzeitigen Hype handeln wird.
Schluff oder Dynamik?
Es gehört mit zur Wahrheit, dass nicht jeder das Händchen dafür besitzt, mit dem aktuellen Trend sicher umzugehen. Zu formlosen, mausgrauen Sweater-Hosen lässt sich beim besten Willen kein stylischer Athleisure-Bezug herstellen.
Gleiches gilt für die weißen Sportsocken, die heutige Mittvierziger als ihre schlimmste modische Jugendsünde verbuchen, die sich aber irgendwie aus dem halbherzig verschlossenen Giftschrank befreien konnten.
Trotz derlei Auswüchsen bleiben allerdings die positiven Seiten des Trends hervorzuheben: Athleisure ist bequem und kann unter gewissen Voraussetzungen mehr für Tatendrang und Aufbruchstimmung stehen als der altbekannte Anzug nebst Krawatte und Budapestern.
Wer trotzdem an dem klassischen Stil festhält, kann sich aber ebenfalls über Athleisure-Vorzüge freuen, denn auch die klassischen Mode-Labels wissen inzwischen die Vorteile von antitranspirativen Stretch-Stoffen zu schätzen und fügen diese Materialien gerne in ihre neuen Kreationen ein. Kostüm und Zweireiher der jüngsten Generation sind also auch nur noch optisch mit ihren Vorgängern zu vergleichen.
Joschka Fischer wusste 1985 noch zu provozieren
Als der Altgrüne Joschka Fischer seinen Amtseid als hessischer Umweltminister in Nike-Turnschuhen antrat, war dies noch ein Grund für einen handfesten Skandal.
Heute trägt der spätere Außenminister maßgeschneiderte Anzüge zu edlen Halbschuhen und schmunzelt vielleicht selbst über seinen damaligen Mut. Aktuell trägt man Sneakers im Büro ebenso wie in der Freizeit oder beim Workout – und zwar auch in der Unternehmensführung.
Im Büro übrigens ebenso wie als First-Class-Passagier auf einem Interkontinental-Flug. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist die Kanadierin Claire-Anne Stroll, die als Hobbysportlerin und Gattin eines Milliardärs ihr Label „Callens“ ins Leben rief.
Seide, Kaschmir und Leder haben in ihrer Kollektion einen ebenso wichtigen Stellenwert wie synthetische Hightech-Werkstoffe aus dem Sportbereich.
Garderobe für hektischen Lebensstil
„Ich wollte eine Garderobe schaffen, die zu unserem hektischen Lebensstil passt und die Luxus, Zweckmäßigkeit und Komfort kombiniert. Callens ist nicht für das Fitness-Studio gedacht, es sind Job-und-Freizeit-Entwürfe. Sie sollen für jede Tageszeit, jedes Klima, jedes Land geeignet sein.“ Diese Aussage ist übrigens nicht neu, sie stammt aus einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 2015. Sieben Jahre später kann Claire-Anne Stroll sich aber bestätigt fühlen, zur richtigen Zeit auf das richtige Pferd gesetzt zu haben.