Pädagogen fordern neue Wege bei der Bewertung von Leistungen in der Schule.
In gut vier Wochen ist es wieder so weit: An den Berliner Schulen gibt es Zeugnisse. Wieder steht ein Wechselbad der Gefühle bevor.
Es gibt Kinder und Jugendliche, die nur durchweg glänzenden Schulnoten in die Sommerferien starten. Andere bekommen beim Blick auf ihr Zeugnis lange Gesichter, weil sie darin wieder mal nur mittelmäßige oder schlechte Leistungen dokumentiert sehen, möglicherweise entgegen ihren Erwartungen.
Nun gut: Manchen Schulkindern fällt der Unterrichtsstoff leicht, andere hingegen haben große Probleme. Und doch schwingen bei vielen Bewertungen Fragen mit: Bildet eine Schulnote wirklich all das angemessen ab, mit dem sich ein junger Mensch eingebracht hat? Welche Rolle spielt die subjektive Wahrnehmung der Lehrkraft, wenn nicht gar Sympathie oder Antipathie?
Systematisch verzerrt
„Noten sind nicht nur scheingenau, sie sind psychologisch und systematisch verzerrt und ungerecht – auch weil sie von vielen Faktoren beeinflusst werden, die nichts mit der Leistung von Lernenden zu tun haben“, sagen die Bildungsexperten Björn Nölte und Phi-
lippe Wampfler. „Sie messen also nicht nur nicht das, was sie messen sollen – sondern tun das auch unpräzise.“
Nölte und Wampfler sind Mitglieder des „Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur“ und machen sich für Lernen ohne Noten stark. In ihrem Buch „Eine Schule ohne Noten. Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung“ beschreiben sie, warum es sich lohnt, konsequent auf Noten zu verzichten.
Neue Formen
Herkömmliches Abfragen von Wissen und Bewertungen von Lösungen mit Noten sei obsolet in Zeiten des digitalen Wandels, in der Wissensmanagement, Lernen und Lernkultur, Möglichkeiten und Formen des Zusammenarbeitens verändert seien.
Dass Noten nicht objektiv sind, sei seit 50 Jahren empirisch belegt, so Wampfler, ein Schweizer Deutschlehrer. Vielmehr würden weitere Faktoren hineinspielen. Etwa: Wie sehr unterstützen einen die Eltern? Wie ist die Lernsituation zu Hause? Es sind Faktoren, die in Zeiten des coronabedingten Homeschoolings, das bei vielen Kindern für schlechtere Noten gesorgt hat, intensiver denn je diskutiert wurden.
Anderer Umgang
Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes hält Noten für ungerecht, will sie aber keinesfalls abschaffen. Stattdessen plädiert Heinz-Peter Meidinger für einen anderen Umgang mit ihnen. Demnach können Noten ein sinnvolles Instrument der Rückmeldung und des Vergleichs sein, wenn Schüler eine individuelle Rückmeldung zu jeder Note erhalten und sie angemessen dabei unterstützt werden, ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln.
Wie diese Intensivbetreuung gerade an den Berliner Schulen funktionieren soll, wo Lehrer fehlen und viel zu oft der Unterricht ausfällt, bleibt allerdings offen. Es sieht leider nicht danach aus, dass die Bewertung schulischer Leistungen in absehbarer Zeit gerechter wird.
Text: Nils Michaelis