„Das ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht“, heißt es oft. Doch dieser Vergleich hinkt für Frauen aus Ländern wie Afghanistan, Syrien oder Eritrea. Denn viele von ihnen haben das Radfahren nie gelernt. Weil es kaum die Möglichkeiten dazu gibt oder es ihnen schlicht verboten wird.
Doch was heute nicht mehr vorstellbar scheint, war vor kaum mehr als 100 Jahren selbst in Deutschland nicht anders. Wer als Frau im späten 19. Jahrhundert selbstbestimmt auf zwei Rädern unterwegs sein wollte, hatte neben der fahrradunfreundlichen Damenkleidung der damaligen Zeit auch noch mit reichlich Vorbehalten der Männerwelt zu kämpfen. Radfahren galt als ungesund und unmoralisch. Zumindest für Frauen.
Einfach machen
Inzwischen hat sich das geändert und das Fahrrad gilt als echte Emanzipationsmaschine auf zwei Rädern. So auch für die Bikeygees aus Berlin, die sich selbst und anderen Frauen seit 2015 das Fahrradfahren beibringen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von Annette Krüger, die Idee dazu kam ihr eines Tages im Internet. “Auf Facebook hat jemand ein Foto von einem Radfahrtraining für Frauen geteilt”, sagt sie, “da dachte ich, warum gibt es sowas eigentlich nicht in Berlin?”
Aus der schnellen Idee wurde dann ebenso rasch Praxis. Ohnehin mag die ehemals selbstständige Eventmanagerin es, einfach loszulegen statt lange zu planen. So entstand der Verein Bikeygees, der seit mehreren Jahren Frauen das Fahrradfahren beibringt und sie dabei unterstützt, unabhängiger zu werden.
1600 Erfolgsgeschichten
Um das zu erreichen, bietet #BIKEYGEES e.V. den Frauen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen kostenlose Fahrradkurse an, bei denen sie lernen, wie man nicht nur auf dem Rad fährt, sondern es auch selbst repariert. Die Trainings für Mädchen und Frauen ab 16 Jahren finden regelmäßig auf Verkehrübungsplätzen in und um Berlin statt. Dort können die Teilnehmerinnen kostenlos Räder und Helme leihen. Und wer sich bereits etwas sicherer auf dem Rad fühlt, kann zudem mit auf kleine Touren nach Brandenburg kommen, wo das Gelernte angewendet werden soll.
Innerhalb von sieben Jahren verhalfen die Bikeygees bereits rund 1600 Frauen aufs Fahrrad. Diese Erfolgsgeschichte hat sich weltweit herumgesprochen. Selbst Camilla, die Queen Consort und Ehefrau von König Charles III., zeigte sich bei ihrem Berlin-Besuch im März 2023 beeindruckt.
„Das war schon aufregend“, sagt Annette Krüger zu dem royalen Besuch im Refugio Café im Herzen von Kreuzkölln, wo auch die Bikeygees ihr Büro haben. „Camilla zeigte sich wirklich interessiert und nannte unser Projekt ‚awesome‘ (engl. für „großartig“, die Red.)”, so die Fahrradaktivistin. „Natürlich hat das nicht nur mich riesig gefreut, sondern auch den Rest unseres Teams.“
Mit 61 Jahren zur Neuradlerin
Eben jenes Team besteht neben Krüger selbst noch aus zahlreichen Helferinnen, die zuvor selbst erst bei den Bikeygees das Radfahren gelernt haben. Sie helfen nun anderen Frauen dabei, im Alltag mobiler zu sein und sich sicher im Straßenverkehr zu fühlen.
Eine von ihnen ist Karima, die erst mit 61 Jahren zur Neuradlerin wurde und sich damit einen echten Kindheitstraum erfüllte. „Ich bin in Bagdad im Irak aufgewachsen“, sagt sie, „dort wurde uns Mädchen das Radfahren verboten. Erst habe ich nicht geglaubt, dass ich es schaffen kann, aber Bikeygees hat mir Mut gemacht. Es hat geklappt, ich bin so stolz auf mich.“
Direkte Hilfe vor Ort
Doch die Erfolgsgeschichte von Karima ist nur eine von vielen und in diesem Sommer werden mit Sicherheit noch viele weitere hinzukommen. Denn die Bikeygees bieten zwar das ganze Jahr über Trainingskurse an, doch diese werden natürlich in den wärmeren Sommermonaten besonders zahlreich besucht.
Deshalb finden auch in den kommenden Wochen wieder Radfahrtrainings statt, nicht nur in Kreuzberg, sondern verstärkt auch in den sogenannten Randbezirken der Hauptstadt wie etwa Spandau oder Marzahn. “Wir wollen den Frauen dort helfen, wo sie wohnen”, sagt Krüger. “Nicht jede kann sich viel Zeit von zuhause frei nehmen und muss auch überhaupt erstmal zu den Übungsfahrten kommen – Radfahren können sie ja noch nicht.”
Materialflaute und andere Barrieren
Allerdings gibt es auch einige Hürden, welche die Bikeygees meistern müssen. Während das Projekt anfangs noch reichlich Fahrräder und sonstige Sachspenden erreichte, herrscht derzeit Materialflaute. Zudem finanziert sich Bikeygees ausschließlich durch Spenden und öffentliche Mittel, etwa vom Bundesministerium des Innern und Heimat.
Nicht zuletzt gibt es auch noch sprachliche Barrieren, da viele der Frauen noch nicht ausreichend Deutsch sprechen. Hier müssen die Trainerinnen oft improvisieren und kreative Lösungen finden, um die Inhalte verständlich zu vermitteln. Doch all das hält Annette Krüger und ihr Team nicht davon ab, sich weiterhin für die Rechte der Frauen im Allgemeinen und das Radfahren im Speziellen einzusetzen.
Text: Sascha Uhlig