Serhii Lukashov, Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine, überreicht einer Kollegin in Lwiw ein Hilfspaket. Bild: Ilievska Katerina
Serhii Lukashov, Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine, überreicht einer Kollegin in Lwiw ein Hilfspaket. Bild: Ilievska Katerina

Am 24. Februar jährt sich der russische Angriff auf die Ukraine. Bombenangriffe, Gewalt, Angst, Kälte, zerstörte Schulen und zerrissene Familien. Der Krieg in der Ukraine hat über Millionen Kindern, Jugendlichen und Familien unbeschreibliches Leid gebracht. Viele Kinder haben ihre Eltern verloren, kaum eines geht noch zur Schule. Ein Jahr, nachdem die russische Armee die Ukraine überfallen hat, schildert Serhii Lukashov, Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine, seine Erfahrungen – und warum der Krieg tiefe Spuren in den Seelen der Kinder hinterlässt.

Herr Lukashov, wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt?

Serhii Lukashov: Es war ein Schock, aber keine Überraschung! Wir ahnten seit Herbst 2021, dass es einen Krieg geben wird – obwohl das schwer wahrzuhaben war. Deshalb hatten wir bereits vor der Invasion viele Vorkehrungen getroffen.

Welche Vorsichtmaßnahmen waren das?

Lukashov: Wir haben Vorräte in unseren SOS-Sozialzentren in der Region Luhansk gelagert und bereiteten Lebensmittelpakete vor. Wir begannen mit den Vorbereitungen für die Evakuierung unserer Pflegefamilien und Kinder.

Wie stand es um die Kinder in staatlichen Institutionen?

Lukashov: Wir machten uns Sorgen um alle Kinder, inklusive der Kinder in staatlicher Obhut. Gemeinsam mit unseren Partnern wandten wir uns an die Behörden mit der Bitte, für den Ernstfall Krieg gewappnet zu sein. Leider wissen wir, dass die erforderlichen Maßnahmen nicht rechtzeitig ergriffen wurden. Die ersten Kriegswochen waren für zehntausende Kinder in Pflegefamilien und Heimen eine gewaltige Belastung, die Spuren hinterlässt.

Im Gegensatz dazu konnten Kinder, Familien und Mitarbeiter aus den Programmen der SOS-Kinderdörfer teilweise schon Wochen vor dem Kriegsbeginn evakuiert werden?

Lukashov: Ja. Zwei Wochen vor dem Krieg konnten wir unsere Pflegefamilien aus den Regionen Kiew und Luhansk davon überzeugen, in den Westen der Ukraine zu ziehen. Wie alle anderen wollten sie nicht an die Gefahr glauben, und daher ihre Heimatorte nicht verlassen. Aber sie vertrauten unserer Erfahrung: Wir haben unsere Arbeit in der Region Luhansk im Jahr 2012 begonnen, wo 2014 ein Krieg ausbrach. Unsere Mitarbeiter arbeiten seit acht Jahren an der Kontaktlinie und unterstützen kontinuierlich traumatisierte Kinder und Eltern.

Was geschah dann?

Lukashov: Als die Invasion begann, waren die meisten unserer Kinder aus den Pflegefamilien bereits in Sicherheit. Dann boten unsere Kollegen von den SOS-Kinderdörfern in Polen an, all diese Familien aufzunehmen. Unsere und die polnischen Mitarbeiter helfen ihnen, sich an die neue Situation zu gewöhnen und weiterzumachen, ohne ihr Leben auf Eis zu legen und abzuwarten.

Denn wir wissen nicht, wann wir sie nach Hause holen können. Aber diese Zeit wird kommen. Bis dahin sollen die Kinder lernen, sich weiter entwickeln, Freunde treffen, erwachsen werden. Kurz: Sie sollen ihr Leben leben!

Wie ging es Ihnen und den anderen SOS-Mitarbeitern?

Lukashov: Wir alle sind Menschen. Natürlich hatten wir Angst. Auch wir mussten mit unseren eigenen Familien fliehen und uns in Sicherheit bringen. Unsere Mitarbeiter haben aber – während sie sich selbst gerettet haben  – auch weiterhin Menschen in Not gerettet.

Wie zum Beispiel?

Lukashov: Einige saßen in verschiedenen Städten fest, die unter schwerem Beschuss standen. Obwohl sie nicht in der Lage waren, sich selbst zu evakuieren, koordinierten sie aus den Kellern heraus, die Evakuierung anderer Menschen.

Eine andere Mitarbeiterin rief uns aus Uschhorod an: „Um mich herum sind Hunderte von Müttern mit Kindern. Sie brauchen Hilfe. Ich weiß, was zu tun ist, denn ich arbeite seit zehn Jahren für die SOS-Kinderdörfer.“ Und dann stellte sie mit unserer Unterstützung die nötige Hilfe auf die Beine.

Was ist Ihre Botschaft an die Welt?

Als Ukrainer möchte ich sagen, dass ich Europäer bin. Wir kämpfen für die Umsetzung der europäischen Prinzipien, für Menschenrechte, Demokratie, Wirtschaftsfreiheit und die Zusammenarbeit zwischen allen Nationen. Wir sprechen unseren europäischen Schwestern und Brüdern unsere Dankbarkeit dafür aus, dass sie ukrainische Kinder in Europa beherbergen, aber wir möchten, dass die Kinder nach Hause zurückkehren. Wir möchten, dass die Kinder hier menschenwürdige Lebensbedingungen in einem familiären Umfeld haben. Die Aufmerksamkeit der Medien für Kriege und Krisen ist von kurzer Dauer, aber die Bedürfnisse von Kindern sind langlebig. Die Kinder, die jetzt traumatisiert sind, werden jahrelange Hilfe brauchen. Wir hier in der Ukraine sind bereit, diese Hilfe zu leisten. Wir bleiben hier trotz Krieg, trotz der Nachkriegsverwüstungen. Wir unterstützen Familien mit Kindern, damit jedes Kind in einer liebevollen Familie aufwächst.

Quelle: SOS Kinderdörfer