Dem Berliner Großstadttrubel entflohen: Philipp Jäger lebt und arbeitet mit Frau und Kind für mehrere Wochen im Erzgebirge - auf Probe.
Dem Berliner Großstadttrubel entflohen: Philipp Jäger lebt und arbeitet mit Frau und Kind für mehrere Wochen im Erzgebirge - auf Probe. Foto: Sebastian Willnow/dpa

Zwönitz (dpa) – Vom Großstadttrubel ins ländliche Erzgebirge: Einen knappen Monat lang hat eine dreiköpfige Familie ihren Wohn- und Arbeitsort getauscht. Statt in Berlin leben sie in der 11.300 Einwohner zählenden Bergstadt Zwönitz und zwar auf Probe. 270 Bewerbungen gab es für das Experiment, sagt Daniel Schalling vom Regionalmanagement Erzgebirge. Die meisten kamen aus großen Städten wie Berlin, München, Hamburg und Frankfurt am Main.

«Wir wollen zeigen, was das Erzgebirge drauf hat, wie lebenswert das Erzgebirge ist», erklärt Schalling. Es gehe darum, eine neue Perspektive auf die Region zu geben und andere Menschen mit überraschenden und begeisternden Eindrücken anzustecken. Doch werden die Teilnehmer am Ende tatsächlich ihre Koffer packen und sich für ein Leben im Erzgebirge entscheiden? «Das wäre perfekt, ist aber nicht unser primäres Ziel.» 


Arbeiten aus der Ferne

Philipp Jäger jedenfalls zeigt sich beeindruckt. Anfang des Monats ist er mit Frau Katharina und Tochter Romy nach Sachsen gekommen. Während das elf Monate alte Töchterchen von einer Tagesmutti betreut wird, gehen die Eltern aus der Ferne in einem Coworking-Büro ihrer Arbeit nach – er in einer Digitalagentur, sie in der Veranstaltungsbranche, erzählt Jäger. Den Rest der Zeit nutzen sie, um Land und Leute kennenzulernen. Dazu waren sie schon in Oberwiesenthal, haben ein Unternehmen besichtigt und einen Rundflug gemacht.

«Es ist hier landschaftlich sehr schön», sagt Jäger, der mit seinem Rennrad nicht die bergige Umgebung scheut. «Wir reisen gern und viel. Das ist für uns eine gute Gelegenheit, eine Region in Deutschland kennenzulernen.» Denn im Erzgebirge sei er zuvor noch nie gewesen. Könnten er und seine Familie hier langfristig Fuß fassen? «Nach zehn Jahren Berlin können wir uns von Brandenburg bis Dubai so ziemlich alles vorstellen.»

Auch andere Kommunen bieten Wohnen auf Probe

Wohnen auf Probe gibt es inzwischen in etlichen Städten. So offerieren Guben und Eisenhüttenstadt in Brandenburg solche Schnupperangebote – in der Hoffnung, angesichts des demografischen Wandels neue Einwohner zu finden. In Guben werden Interessierten dabei möblierte Gästewohnungen für zwei bis vier Wochen zur Verfügung gestellt, wöchentliche Stammtische organisiert und auf Wunsch Praktika in Unternehmen vermittelt. Voriges Jahr nutzten das laut der Stadt 31 Personen; dieses Jahr soll es eine ähnliche Teilnehmerzahl sein.

Auf sehr lange Erfahrung mit Angeboten zum Probewohnen blickt die Stadt Görlitz. Die Anfänge reichen bis 2008 zurück. Die Ursprungsidee war, wegen der Leerstände Einwohner vom Stadtrand ins Zentrum zu locken, wie Robert Knippschild erklärt. Er leitet das Interdisziplinäre Zentrum für transformativen Stadtumbau am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung. Die Forscher begleiten das Probewohnen in Görlitz wissenschaftlich.

Görlitz: Jeder zehnte Probe-Einwohner ist geblieben

Später sei das Programm auf Zuzug von außerhalb ausgerichtet worden, inzwischen ist es Mitarbeitern des neu entstehenden Forschungszentrums für Astrophysik vorbehalten. Denn so eine Ansiedlung bedeute nicht automatisch, dass Beschäftigte tatsächlich in die Stadt umziehen, weiß Knippschild. Interessierte können nun drei Monate lang in Görlitz auf Probe leben. Das nutzen den Angaben nach im aktuellen Durchlauf 18 Personen.

Insgesamt haben seit Anbeginn des Projekts knapp 270 Menschen probeweise in der Stadt gewohnt, etwa jeder Zehnte ist letztlich dort sesshaft geworden, wie Knippschild erläutert. «Das sind die, von denen wir es wissen.» Die tatsächliche Zahl könne durchaus höher sein.

«Es geht bei dem Projekt nicht so sehr darum, neue Einwohner en masse in die Stadt zu bekommen», betont der Wissenschaftler. Es gehe vielmehr auch um die Erkenntnis, welche Erwartungen die Menschen an das Leben in solch einer mittelgroßen Stadt haben, woher sie kommen, welche lebensweltliche Erfahrungen sie hier machen und inwieweit sich das von ihren Erwartungen unterscheidet. Daraus könnten Schlüsse für die Stadtentwicklung und die Infrastruktur gezogen werden.