Berlin (dpa) – Schlappe vor Gericht für die neue Bundesregierung: Das Auswärtige Amt muss einer Afghanin und ihrer Familie Visa zur Einreise nach Deutschland erteilen, nachdem entsprechende Zusagen gemacht wurden. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren im Streit um das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen entschieden, wie eine Gerichtssprecherin mitteilte. (Az.: VG 8 L 290/25)
Die Bundesregierung habe sich «durch bestandskräftige, nicht widerrufene Aufnahmebescheide rechtlich zur Aufnahme gebunden», erklärten die Richter zur Begründung. «Von dieser freiwillig eingegangen Bindung» könne sich Deutschland nicht lösen.
Afghanische Juradozentin stellte Eilantrag
Damit war der Eilantrag der Juradozentin und ihrer 13 Familienangehörigen, die in Pakistan auf Visa warten, in erster Instanz erfolgreich. Das Auswärtige Amt ist nach der Entscheidung laut Gerichtssprecherin verpflichtet, sofort zu handeln. Gegen den Beschluss kann jedoch Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden. Sollte die Behörde das tun, könnte es zu Verzögerungen kommen.
Vereinbarung im Koalitionsvertrag
In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich CDU, CSU und SPD darauf geeinigt, keine neuen freiwilligen Aufnahmeprogramme des Bundes für bestimmte Gruppen von Schutzbedürftigen mehr zu starten. Auch die Beendigung des Aufnahmeprogramms für Afghanen wurde darin als Ziel formuliert.
Dass zumindest einige der Politikerinnen und Politiker, die an den Koalitionsverhandlungen beteiligt waren, Zweifel hatten, dass dies vor Gericht Bestand haben würde, lässt sich allerdings schon an der Formulierung im Koalitionsvertrag ablesen. Darin heißt es: «Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden (zum Beispiel Afghanistan) und keine neuen Programme auflegen.»
Für das Bundesinnenministerium, das das Aufnahmeprogramm gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt verantwortet, ist dies nun binnen weniger Wochen die dritte Niederlage vor Gericht, die für Schlagzeilen sorgt. Anfang Juni hatte eine andere Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts die Zurückweisung dreier Asylsuchender aus Somalia nach Polen für rechtswidrig erklärt. Am 24. Juni hob das Bundesverwaltungsgericht das Verbot des rechtsextremen Magazins «Compact» auf, das die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) im Sommer 2024 erlassen hatte.
Richter: Bundesregierung kann Programm beenden
Die Richter betonen in ihrem Beschluss, dass die Bundesregierung frei darüber entscheiden kann, ob sie das Aufnahmeverfahren für afghanische Staatsangehörige beenden will – oder unter welchen Voraussetzungen eine Fortsetzung denkbar ist. Auch könne sie von neuen Aufnahmezusagen absehen. Im vorliegenden Fall könnten sich die Betroffenen jedoch auf die bereits gemachten Zusagen berufen.
Bei der Frau und ihrer Familie seien Aufnahmezusagen bestandskräftig geworden, so die zuständige 8. Kammer. Zudem erfüllten die Betroffenen die Voraussetzungen für ein Visum: Es seien keine Sicherheitsbedenken ersichtlich, und die Identität der Menschen sei geklärt. Der Familie droht nach eigenen Angaben die Abschiebung aus Pakistan nach Afghanistan, wo ihr Leben unter der Herrschaft der radikalislamischen Taliban gefährdet sei. Dies wurde aus Sicht des Gerichts glaubhaft dargestellt.
Verschiedene Programm nach Machtübernahme
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden verschiedene Aufnahmeverfahren für Menschen aus Afghanistan eingerichtet. Ursprünglich hatte die Ampel-Koalition geplant, ihre Ausreise nach Deutschland noch während der laufenden Legislaturperiode zu organisieren.
Daraus wurde dann auch deshalb nichts, weil es nach dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition vorgezogene Neuwahlen gab. Der vorerst letzte von der Bundesregierung organisierte Charterflug für Menschen aus dem Bundesaufnahmeprogramm landete am 16. April in Leipzig.
Die neue Bundesregierung von Union und SPD stoppte die Programme dann Anfang Mai. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes vom 20. Juni warten rund 2.400 Menschen in Pakistan darauf, dass sie ein Visum bekommen.
Gericht macht keine Aussagen zu Charterflügen
Betroffen davon sind nach den Angaben etwa Menschen, die sich für Gleichberechtigung und Demokratie eingesetzt haben. Auch Richter, Journalistinnen oder Künstler zählten zu den Betroffenen.
Eine Aussage dazu, ob die Bundesregierung weitere Charterflüge nach Deutschland für die Betroffenen organisieren muss, hat das Gericht nicht getroffen. Womöglich müsste die Reise nach Deutschland also von den Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage selbst organisiert und finanziert werden. Das könnte schwierig werden, da viele von ihnen durch die lange Wartezeit in Pakistan keine finanziellen Ressourcen mehr haben.
Organisation will Fortsetzung erzwingen
Mit zahlreichen Klagen will die Organisation «Kabul Luftbrücke» die Fortsetzung des Aufnahmeprogramms für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen erzwingen. Die Betroffenen hätten ihre Heimat verlassen im Vertrauen auf deutsche Versprechen, erklärte Sprecherin Eva Beyer im Juni, als die ersten 26 Verfahren in Berlin eingereicht wurden.
Der aktuelle Gerichtsbeschluss sei nicht nur eine Einzelfallentscheidung, hieß es von der Organisation. Die Richter stellten grundsätzlich klar: «Die Bundesregierung ist rechtlich verpflichtet, die Zusagen umzusetzen, und zwar schnell. Ansonsten drohen Schäden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.»
Dem Gericht liegen nach eigenen Angaben schätzungsweise etwa 40 Fälle als Eilanträge und Klagen zu der Thematik vor. Diese seien aber unterschiedlich gelagert, erklärte die Gerichtssprecherin. Über die Verfahren müssten jeweils unterschiedliche Kammern entscheiden. Es sei unklar, wann dies geschehe. Offen ist auch, ob die anderen Richterinnen und Richter die gleiche Auffassung vertreten wie aktuell die 8. Kammer.
Grüne und Linke sehen keinen Spielraum
Clara Bünger, Innenpolitikerin der Linksfraktion im Bundestag, sagt, der Beschluss des Gerichts fordere eine umgehende Ausstellung der Visa. «Ich erwarte daher von der Regierung alle notwendigen Schritte einzuleiten, um die Ausreisen zu ermöglichen.»
Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Marcel Emmerich, sagt, Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) «setzen auf Rechtsbruch statt Rechtsstaat». Die Ausreisen nach Deutschland müssten sofort wieder aufgenommen werden.