Der Champ im Bielefelder Lokschuppen

Dass Enrico Kölling austeilen und einstecken kann, hat der Boxer in den vergangenen acht Jahren auf seine ganz besondere Art auch außerhalb des Rings bewiesen. Seit 2015 ging es für den Cruisergewichtler dabei nicht nur um Schwinger, Haken oder Knock-Outs – Köllings Kämpfe hatten auch mit seiner Gesundheit, der COVID-Krise und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu tun.

Mitte November gab es für ihn nun das große Comeback und der DHL-Bote mit dem Diabetes-Handicap holte sich doch tatsächlich den Europameistertitel im Cruisergewicht der WBO-Version beim Fight gegen den favorisierten und bis dahin unbesiegten Titelverteidiger Leon Hart im Bielefelder Lokschuppen. 

“Ich bin glücklich, dass sich die ganze Arbeit und das Training jetzt gelohnt haben”, sagt der 31-jährige im Interview mit dem Berliner Abendblatt am vergangenen Freitag. “Es war ja quasi die letzte Chance in meinem Sport auf so hohem Niveau weiter kämpfen zu können”, ergänzt er.

Und die Vorbereitungen für diesen Kampf waren alles andere als optimal. “Während mein Gegner sich sogar ein mehrwöchiges Trainingslager leisten konnte, habe ich mit meinem Team die ganze Kampfvorbereitung hier in Hellersdorf absolviert”, erklärt der Champ, der in den vergangenen Monaten dazu auch noch als Paketbote in Vollzeit für die DHL durch seinen Verteilerbezirk in Köpenick kurvte. “Doppelschichten und tägliche Trainingseinheiten gehörten in diesen Wochen zu meinem Alltag”, sagt Kölling, der vor wenigen Jahren schon einmal eine viel gewaltigere Hürde in seinem Leben meistern musste.

“2015 lag ich mit einer Blutvergiftung auf der Intensivstation. Die Ärzte erklärten mir, dass es mit dem Leistungssport wohl nix mehr wird. Diabetes Typ I hatten die bei mir diagnostiziert und teilten mir mit, dass meine Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produziere und ich auf Spritzen angewiesen sei”, erinnert sich Kölling. Noch im Krankenhausbett fasste er den Entschluss, trotzdem weiterzumachen.

Zwei Aufgaben und eine Lösung

“Diese Krankheit hat ja den Vorteil, dass ihr mit Disziplin, gesunder Ernährung und Verhaltensweise entgegnet werden kann. Eine Haltung, die ja ganz hervorragend zu meinem Sport passt”, sagt Kölling, der auch in den Folgemonaten unter Federführung des Sauerland-Managements Erfolge feiern konnte: 2016 holte sich der 90-Kilo-Mann schließlich den Interkontinental-Titel der WBA-Version. Es folgten zwei Titelverteidigungen und ein WM-Kampf in der Version des IBF-Verbandes.

Bodenständiger Job

“In diesen Jahren brach leider aber auch der Box-Boom bei den Fernsehübertragungen im öffentlichen Fernsehen ab. Das Geld aus den Kampfbörsen schrumpfte merklich – und dann kamen später noch die Ausfälle wegen Corona dazu”, erklärt Kölling, der seit seinem sechsten Lebensjahr in Marzahn-Hellersdorf lebt und als Knirps seine allerersten Boxtrainings in einem Gym unter der damaligen Marzahner Diskothek “Conny Island” im Jahr 1998 absolvierte.

Vor gut einem Jahr wurde dem Boxer klar, dass die Einnahmen aus dem Profisport für den Lebensunterhalt nicht mehr reichten. “Da bin ich in Vollzeit bei der DHL als Paketbote eingestiegen”, erklärt Kölling, der zudem noch gemeinsam mit dem Vater seiner Lebensgefährtin eine Currywurstbude in Marzahn-Hellerdorf betreibt.

Würstchen vom Champ

“Der Name für unsere Bude war schnell gefunden: Aus Ingo und Rico wurde einfach Ringo”, erklärt der Champ – “Ringo´s Grill” lädt nun zu Boulette und scharfen Würstchen ein. “Hier stehe ich auch ab und an mal als Aushilfe hinterm Tresen”, erklärt der Boxer mit den vielen Talenten und guten Freunden.

Hilfe aus dem Freundeskreis

“Die Freunde haben mir in den Vergangenheit besonders geholfen – zuletzt auch bei den spontanen Sparrings. Nick Hanning und Philipp Palm gilt da mein besonderes Dankeschön für die Extrarunden im Ring, die mich fit für den Kampf gemacht haben. Fast alle meine Freunde waren an diesem Comeback beteiligt”, gesteht Enrico Kölling, der mit einem Team von rund vierzig Personen nach Bielefeld zum Titelkampf anreiste. “Die Kumpels kommen immer mit. Wir nennen das Klassenfahrt und es hilft mir bei meinen Fights enorm”, sagt der Europameister, den das besondere Stück Glück in den vergangenen Monaten auch zuhause widerfuhr.

Das Glück daheim

Vito heißt der junge Sohnemann, der vor wenigen Monaten zur Welt kam und nun ein wichtiger Ankerpunkt im Leben von Enrico Kölling und seiner langjährigen Partnerin Francis ist. “Er ist derzeit mein kleiner Champ”, sagt der frisch gekührte Europameister.

Zögern ist keine Option

Aus seinen Erfahrungen der vergangenen Jahre hat Enrico Kölling viel gelernt. “Wenn du fühlst, dass es weitergehen kann, dann musst du es einfach auch machen”, sagt der Boxer, dessen Vater Detlef auch sein Trainer ist. Und der hatte ihn ermahnt, auch im Kampf weniger zu zögern, sondern einfach entschlossen nach vorne zu gehen. Genau mit der Haltung und Konsequenz, die ihn auch ausserhalb des Rings geholfen hat. 

“Wenn ich den vergangenen Kampf verloren hätte, wäre meine Marktwert drastisch gesunken. Jetzt habe ich gewonnen und mit dem Sieg werden auch die Börsen wieder steigen. Welchen Titel oder Gegner ich boxen werde, ist mir eigentlich egal. Es ist doch alles ganz einfach: Der nächste Kampf ist der wichtigste”, weiß Kölling. Und der nächste Kampf kommt bestimmt. Vielleicht sogar noch vor dem ersten Gong.

Text: Stefan Bartylla, Bilder: az-management