Warum ein Weihnachts-Wunder aus dem Kriegswinter 1914 auch heute hoffen lässt.
Zur Weihnachtszeit überkommt viele Menschen der Wunsch nach Ruhe und Frieden. Dieses Ziel erscheint so weit entfernt wie nie. Man denke an die Kriege und Konflikte weltweit. Nicht erst seit dem Brexit bröckelt die Idee eines geeinten Europas, vergiften Rechtspopulisten das politische Klima. Stichwort Klima: Auch darum, wie man nachhaltig konsumiert oder sich fortbewegt, werden erbitterte Auseinandersetzungen geführt. Die Gräben ziehen sich hinein bis ins Private. Und sie werden immer tiefer.
Sinnlose Kämpfe
Die Weihnachtszeit ist aber auch eine hoffnungsvolle Zeit. Dafür lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Dezember 1914: Der Erste Weltkrieg ist zu einem Stellungskrieg geworden. An eine baldige Entscheidung glaubt niemand mehr. Die anfängliche Euphorie ist dahin. An der Front in Flandern haben sich Engländer und Deutsche sprichwörtlich eingegraben. Trotz der Kriegspropaganda wächst auf beiden Seiten die Zermürbung über die zunehmend sinnlos erscheinenden Kämpfe. Und damit auch der Wunsch, an Weihnachten ein paar unbeschwerte Stunden zu verbringen und die ständige Angst vor Heckenschützen und Granaten zu vergessen.
So kommt es am 23. Dezember zu einem kleinen Wunder: An mehreren Abschnitten entlang der Westfront verbrüdern sich gegnerische Soldaten. Wohl auch begünstigt durch ähnliche weihnachtliche Bräuche und Lieder, sind es vor allem Briten und Deutsche.
Gemeinsame Bescherung
Am bekanntesten sind die Ereignisse entlang der Linie um das belgische Ypern, zwischen Mesen und Nieuwkapelle. Viele Soldaten erhalten zum ersten Mal seit Monaten Post und Geschenke aus der Heimat. Diese Freude ermutigt Gefreite und Offiziere auf beiden Seiten, den häufig nur gut 50 Meter entfernten Gegner an der Bescherung teilhaben zu lassen. Einigen Deutschen gelingt es, einen Schokoladenkuchen über das mit Leichen übersäte Niemandsland zwischen den Gräben zu befördern. Die Briten nehmen ihn gerne an.
Denen ruft ein deutscher Soldat zu, dass die Deutschen um eine bestimmte Uhrzeit Weihnachtslieder singen wollten und dass der „Tommy“ deshalb nicht schießen möge. Als Zeichen wolle er Kerzen auf den Grabenrand stellen. Die Gegner akzeptieren den Wunsch. Als das Konzert beendet ist, applaudieren die Briten und werden von den Deutschen aufgefordert, mitzusingen.
Berühmte Fotos
Am Morgen des 24. Dezember herrscht an diesem Frontabschnitt Stille, nur vereinzelt fallen Schüsse. „Tommys“ und „Hunnen“, wie die kaiserlichen Truppen auf der Insel genannt werden, einigen sich darauf, ihre Gefallenen zu bergen. Das Gelände zwischen den Gräben füllt sich mit Menschen. Einfache Soldaten und Befehlshaber kommen miteinander ins Gespräch. Dabei entstehen jene Fotos, die in Deutschland vor allem durch Michael Jürgs’ Bestseller „Der kleine Frieden im Großen Krieg“ (2003) bekannt geworden sind.
Am 26. Dezember endet der Waffenstillstand. Ein Jahr später wird der 24. Dezember ein blutiger Tag wie jeder andere auch. Und doch steht jene Verbrüderung von rund 100.000 Militärangehörige im ersten Kriegswinter für einen Moment der Hoffnung in dunklen Zeiten. Und dafür, dass jeder Graben überwunden werden kann.
Datum: 19. Dezember 2019. Text: Nils Michaelis. Bild: imago images/United Archives Internation.