„Berliner Abendblatt“-Chefredakteur Ulf Teichert war am 9. November als Reporter für die „BZ am Abend“ unterwegs.
Der 9. November 1989, ein Donnerstag, beginnt ungewöhnlich sonnig. Noch immer bin ich aufgewühlt von der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz fünf Tage zuvor. Nach Redaktionsschluss setze ich mich in die S-Bahn, um in Alt-Glienicke eine Kollegin zu besuchen, die schon seit Tagen krankgeschrieben ist. Ich berichte von der Demo am 4. November, von der Stimmung in der Redaktion und dass für 18 Uhr eine internationale Pressekonferenz des SED-Politbüros zu den neuen Reiseregelungen angekündigt ist.
Wachsende Vorfreude
Nur wenige Stunden später, gegen 20.30 Uhr, stehe ich vorm Grenzübergang Bornholmer Straße. Einige hundert Menschen drängen sich vor dem Zugang zu den Abfertigungsschaltern. Die Vorfreude ist nahezu greifbar und mit jeder Minute wächst die Zahl derer, die die Worte Schabowskis ernst nehmen, dass die neuen Regelungen ab sofort gelten. Es dauert, bis ich mich an die Tür durchgekämpft habe. „Ich möchte bitte zum Wachhabenden!“ Der Uniformierte schaut sich meinen roten Klappausweis mit dem Schriftzug „BZ am Abend“ an. „Warten Sie hier“, befiehlt er mir, winkt sich einen anderen Grenzer heran, der nach kurzem Gespräch im Laufschritt verschwindet. Wenig später wird mir die Drahtgittertür geöffnet: „Kommse mit!“ Der Unteroffizier führt mich an den Schaltern vorbei, an denen sonst Besucher aus Westberlin abgefertigt werden, durch einen in kaltes Neonlicht getauchten Gang, verschwindet in einem Büro und gibt mir zu verstehen, dass ich ihm folgen soll. „Genosse Oberstleutnant, der Genosse von der Zeitung“, kündigt er mich an.
Ratloser Offizier
Harald Jäger ist ein untersetzt-kräftiger Mann. Und nicht zu überhören: ein Sachse. „Wir lassen jetzt die ersten durch“, sagt er. „Wollen Sie sich das angucken?“ Er bedeutet mir, ihm zu folgen. Im Gehen erzählt er, dass er gerade den Befehl bekommen hat, die lautesten Leute nach und nach „rauszulassen“. „Was bedeutet das?“, frage ich ihn. „Nu, die bekommen einen Stempel in den Ausweis und dann dürfen se gehen.“ „Und dürfen die dann auch wieder rein?“ „Also angeblich nicht, aber was weiß ich denn“, beklagt sich kopfschüttelnd der Oberstleutnant. Er bespricht sich mit einigen Untergebenen, dann werden die Abfertigungsschalter besetzt. Die ersten Wartenden dürfen passieren. Die zücken ihre Ausweise, die abgestempelt und damit – wie man heute weiß – ungültig gemacht werden.
Lautstarke Rufe
Es ist jetzt kurz nach 23 Uhr. Seit drei Stunden entlässt Oberstleutnant Harald Jäger DDR-Bürger in den Westen und aus ihrer Staatsbürgerschaft. Seit drei Stunden drängen sich immer mehr Menschen vor der Bösebrücke, telefoniert Jäger unablässig mit den Diensthabenden anderer Grenzübergänge oder mit Vorgesetzten. Die Nerven des Sachsen liegen längst blank. Die Massen auf der Straße fordern inzwischen lautstark, endlich nach Westberlin zu dürfen. Die anfangs heitere Stimmung droht zu kippen.
Jäger startet noch einmal einen Versuch. Meine Anwesenheit hat er längst vergessen. „Was ist denn nun, wie geht’s weiter?“, fragt er ins Telefon. Offensichtlich erhält er wieder keine klare Anweisung. Wütend knallt er den Hörer hin. „Wir fluten jetzt“, befiehlt er einem Hauptmann. „Machen se das Ding hoch. Keine Passkontrollen mehr.“ Der Schlagbaum geht hoch. Es ist diese eine Sekunde, die ich nie vergessen werde: Die Menschen schauen sich ungläubig an. Dann beginnen die ersten zu rennen und dann ist da nur noch ein kollektiver Freudenschrei. Jäger sieht dem Ganzen ungläubig zu. „Die latschen mir über die Rabatten“, sagt er kopfschüttelnd. Dann verschwindet er in der Baracke.
Offensichtlich erhält er wieder nur eine Information, die ihn ratlos macht. Wütend knallt er den Hörer aufs Telefon. „Wir machen jetzt auf“, befiehlt er einem Hauptmann. „Machen se das Ding hoch. Keine Passkontrollen mehr.“ Der Schlagbaum geht hoch. Es ist diese eine Sekunde, die ich nie vergessen werde: Die Menschen schauen sich ungläubig an. Dann beginnen die ersten zu rennen und dann ist es ein kollektiver Schrei. Jäger sieht dem Ganzen ungläubig zu. „Die latschen mir über die Rabatten“, sagt er kopfschüttelnd. Dann verschwindet er in der Baracke.
Keine Vorbereitung
Kurz vor Mitternacht bin ich zum ersten Mal in Westberlin, treffe auf den ersten West-Polizisten meines Lebens. Ich zeige ihm meinen Presseausweis und frage, wie denn die Polizei auf den Ansturm vorbereitet sei und damit umgehe. Er guckt mich verständnislos an. „Haben Sie einen Einsatzleiter?“, frage ich. „Kann ich rufen“, antwortet er und spricht in sein Walkie Talkie. Zehn Minuten später kämpft sich sein Vorgesetzter durchs Gewühl. „Was wollen Sie wissen?“, fragt er mich. Ob denn die Polizei Westberlins auf diesen Ansturm vorbereitet ist, frage ich ihn. Was denn jetzt mit den Menschen geschieht, die in die Stadt strömen. Der sichtlich genervte Hauptkommissar antwortet: „Wir haben alle keine Ahnung. Normalerweise dürfte ich hier keinen durchlassen. Aber dies jetzt zu verhindern, liegt außerhalb meiner Macht.“
Der Morgen des 10. November, 6 Uhr, Redaktionsbesprechung: Um 14 Uhr soll die „BZ am Abend“ in den Kiosken liegen oder von Straßenhändlern verkauft werden. Die Verunsicherung des Chefredakteurs vor dem, was in der Nacht passiert ist und was daraus entstehen könnte, ist greifbar. Ich berichte, was ich in der zurückliegenden Nacht erlebt habe. Ihr sei das alles unheimlich und man solle sich mit einer Berichterstattung zurückhalten, erklärt die Politikchefin. Der Chefredakteur wird unruhig. „Gut“, sagt er, „wir nehmen den Bericht vom Ku‘damm-Ausflug des Kollegen S. klein auf Seite 1, die Beschlüsse der ZK-Tagung werden Aufmacher. „Und was ist mit meiner Reportage frage ich. „Mal sehen, vielleicht findet sich ja auf der Politik-Seite noch ein Platz …“
Datum: 9. November 2019 Text: Ulf Teichert Bild: Archiv, F.F.-dabei