Berlin (dpa) – Bodo Ramelow hatte Ostverwandtschaft und reiste seit Anfang der 1980er Jahre regelmäßig von Marburg aus im kleinen Grenzverkehr in die DDR. Deshalb dachte er eigentlich, er wüsste Bescheid über Land und Leute. «Als ich dann herkam, stellte ich fest, ich hatte gar nichts verstanden», sagt der frühere Thüringer Ministerpräsident, heute Bundestagsvizepräsident, von der Linken.
Ilko-Sascha Kowalczuk wuchs in Ostberlin auf, und zwar nach eigenen Worten in einem staatsnahen Elternhaus, mit dem er später brach. Als Jugendlicher war er immer auf dem Laufenden, was in Westberlin in den Clubs und den Kinos lief. «Mit einem Teil meines Wesens lebte ich immer im Westen», sagt der Historiker und Autor diverser Bücher zur deutschen Vereinigung.
Der Westler mit Ostgeschichte, der Ostler mit dem Blick nach Westen: In einem neuen Gesprächsband analysieren Ramelow (69) und Kowalczuk (58) den Stand der Dinge 35 Jahre nach der Deutschen Einheit. Nicht nur der Titel lässt erahnen, es steht nicht zum Besten: «Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten». Die beiden erzählen eine Geschichte voller Missverständnisse auf dem Weg in eine zerrüttete Beziehung.
Fehler und überzogene Erwartungen
Da sind die Fehler der Vereinigung und die überzogenen Erwartungen im Osten an die D-Mark, an die Freiheit, an das bundesdeutsche System. Da ist die westliche Arroganz, das Unverständnis für die Verhältnisse in der DDR. Selbst die westdeutschen Gewerkschaften seien von vielen im Osten als «Besatzungsarmee» wahrgenommen worden, erinnert sich Ramelow, der 1990 als Gewerkschafter nach Thüringen kam.
Da ist das sehr unterschiedliche Empfinden. Für die Ostdeutschen war jeden Tag alles neu nach der friedlichen Revolution. «Diese Dynamik wird oft vergessen: Man stand morgens anders auf, als man abends ins Bett gegangen war. Sicher nicht am Rhein, aber ganz bestimmt an der Werra oder an der Spree», sagt Kowalczuk. Ramelow sieht auch den drastischen Einbruch am Arbeitsmarkt und räumt ein: «Im Westen gab es für dieses Problem keinerlei Sensibilität.»
Ein sehr langes Küchentischgespräch
Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Kowalczuk hat selbst mehrfach darüber geschrieben, unter anderem in seinem Buch «Die Übernahme». Das Gefühl der Zurücksetzung in Ostdeutschland, die Wut über westdeutsche Dominanz trug auch das Buch «Der Osten, eine westdeutsche Erfindung» von Dirk Oschmann, das 2023 zum Bestseller wurde.
Was die Analyse von Ramelow und Kowalczuk ungewöhnlich macht, ist das Format – es ist ein über knapp 240 Seiten geführtes Küchentischgespräch mit unendlich vielen Facetten. Mal geht es um sprachliche Unterschiede bei Plastetüte und Zellstofftuch, mal um Jugendweihe und Gesundheitswesen, mal um den unterschiedlichen Blick auf die USA und Russland, mal um das Wirtschafts- und Sozialsystem, mal um das Desinteresse der Medien am Osten und den Film «Das Leben der anderen».
«Es ist wirklich schlimm»
In diesem Mäandern nähern sich die beiden Beobachter ihrer Diagnose der deutschen Gegenwart, und auch die fällt beunruhigend aus. «Viele im Westen ahnen gar nicht», sagt Kowalczuk, «wie tief der Hass in weiten Kreisen des Ostens auf den Westen ist, auf Westler, auf das westliche politische System. Es ist wirklich schlimm.» Von da ist es nicht weit zur Erkenntnis, dass Parteien wie die AfD diesen Unmut nutzen.
Zugleich erwartet Kowalczuk, dass der Osten bei der gesellschaftlichen Entwicklung nur eine Art Vorhut ist. «Im Osten geschieht vieles politisch Negative oder Reaktionäre früher, schneller und radikaler als anderswo», sagt der Historiker. «Das hängt mit der doppelten Transformationserfahrung zusammen, über die wir sprachen. Aber alles, was im Osten geschieht, vollzieht sich irgendwann auch im Westen mit zeitlicher Verzögerung.»
«Grenzen längst fließend»
Er kommt dabei auf das Bild der «neuen Mauer», die Deutschland beim AfD-Ergebnis der Bundestagswahl scheinbar trennte. «Legt man die Zweitstimmenergebnisse zugrunde, ist der Osten blau. Guckt man genauer hin, sind die Grenzen längst fließend.» Die beiden Gesprächspartner blicken mit Sorge auf die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am 14. September.
Wie schlägt man den Bogen von Misstrauen und Hass, vom schleichenden Vertrauensverlust, von den Gefahren für die Demokratie hin zu einem irgendwie zuversichtlichen Ausblick? Ramelow spricht von seinem Traum gelebter Demokratie als stetige Verbesserung. Kowalczuk erinnert daran, dass historische Prozesse nicht linear verlaufen. Am Ende lenken sie den Blick auf Europa. «Eine deutsche Verfassungsdebatte, die in eine europäische Verfassung mündet, wäre ein lohnendes Projekt für die nächsten Jahre», sagt Ramelow. Und Kowalczuk: «Wir haben viel vor uns.»