„Wir nehmen leider keine Patienten mehr auf.“ Möglicherweise werden Menschen auf der Suche nach einem behandelnden Arzt diesen Satz ab dem kommenden Jahr noch öfter hören als jetzt schon. Grund dafür ist der geplante Wegfall der Neupatientenregelung. Die Empörung unter den Ärzten ist groß.
„Kommen Sie mal lieber mit Ihrem Sohn vorbei, auch wenn er keine Symptome mehr hat“, sagte vor ein paar Wochen die Sprechstundenhilfe der Dermatologischen Praxis am Sterndamm zu mir. Den Termin hatte ich vor Monaten gemacht, die Hautprobleme meines Sohnes waren längst passé.
„Wenn Herr Lauterbach seine Ankündigung wahr macht, geht in Sachen Neupatienten nämlich bald gar nichts mehr“, ergänzte sie noch. Ich verstand nicht ganz, ging aber mit meinem gesunden Sohn zum Termin. Nur um registriert zu sein und nicht mehr als Neupatient zu gelten. Die Ärztin bestätigte: „Gut, dass Ihr Sohn jetzt bei uns Patient ist. Falls Sie mal eine Salbe brauchen.“ Denn wenn die Neupatientenregelung wegfalle, gebe es kaum noch eine Chance auf einen Termin in ihrer Praxis für „Neulinge“.
Es wird ernst
„Wir nehmen leider keine Patienten mehr auf.“ Möglicherweise werden Menschen auf der Suche nach einem behandelnden Arzt diesen Satz ab dem kommenden Jahr noch öfter hören als jetzt schon. Hintergrund ist eine Gesetzesänderung.
Krankenkassen defizitär
Damit die Krankenkassen aus ihrem Defizit herauskommen, hat das Gesundheitsministerium unter der Leitung von Karl Lauterbach das sogenannte GKV-Finanzstabilisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Das Gesetz sieht unter anderem den Wegfall der Neupatientenregelung vor. Diese ist erst vor drei Jahren eingeführt worden – als Anreiz für Ärzte, mehr Termine anzubieten und damit mehr Menschen behandeln zu können. Da war Jens Spahn noch Chef im Gesundheitsministerium. Ärzte wurden dafür extrabudgetär bezahlt. Deshalb etablierten sich in den vergangenen Jahren die offenen Sprechstunden in Arztpraxen, zu denen jeder kommen konnte, ohne Termin und ohne bereits Patient zu sein.
Wenn die Neupatientenregelung ab 2023 wegfällt, fällt auch die offene Sprechstunde weg. Für die Ärzte eine klare Rechnung: kein Cash mehr für neue Patienten heißt: keine neuen Patienten. Und wer dann einen Termin in einer Praxis haben möchte, in der er noch nie oder in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr gewesen ist, hat ein Problem. Das Gesetz soll übrigens am 23. September in erster Lesung im Bundestag beraten werden.
Empörung und Unverständnis
Die Empörung über diese Pläne ist unter den Ärzten groß. Deshalb blieben in Berlin am 7. September im Rahmen eines Streiks 2.000 Arztpraxen geschlossen. Rund 7.000 Praxen gibt es insgesamt in Berlin, darunter 3.000 Hausärzte und 4.000 Fachärzte.
In „ÄrzteTag“, dem Podcast der Ärztezeitung, spricht Dr. Dirk Heinrich, Chef des Spitzenverbandes der Fachärzte Deutschlands (SpiFa), Klartext: „Unsere Patientinnen und Patienten müssen wissen, dass es zu Leistungskürzungen kommen wird.“ Die Ampelkoalition, also SPD, FDP und Grüne, sei Adressat für den künftigen Ärger der Patienten, die in Arztpraxen nicht mehr behandelt werden.
Ärzte völlig frustriert
„Die Beschwerden gehen dann natürlich an die Ärzte und Sprechstundenhilfen, aber wir sind daran nicht schuld“, sagt Heinrich. Das neue Finanzstabilisierunggesetz mit dem Wegfall der Neupatientenregelung zerstöre komplett die Verlässlichkeit der Politik. Die völlige Frustration der niedergelassenen Ärzte sei das Ergebnis.
„Und das wird sich in Frühpensionierungen, in Aufnahmestopps und in weniger Nachfolge widerspiegeln.“ Laut Heinrich werden die Kosten größer sein als jetzt. Denn die Patienten werden wieder in die Klinikambulanzen und Notaufnahmen gehen. „Und das kann nicht das Ziel sein.“
Offener Brief
In einem offenen Brief hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung vor der Streichung der Regel gewarnt. 52.000 Ärzte haben diesen Brief unterschrieben. „Wir sehen keinen Weg, wie wir die Versorgung der Patientinnen und Patienten auf dem bisherigen Niveau aufrechterhalten können“, steht in dem Brief.
Die Honararkürzung für Neupatienten komme für die Ärzte zur Unzeit. „Die Maske ist gefallen. Karl Lauterbach will die Versorgung der Bürger einschränken. Dieses Gesetz ist ein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten in Deutschland“, kommentierte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), den Gesetzesentwurf.
Text: Sara Klinke