Das Chaos am Wahlsonntag war absehbar. Am Ende könnte eine Wiederholung der Abstimmung stehen.
Es ist kurz vor 18 Uhr am Wahlsonntag. Vor einem Wahllokal in Prenzlauer Berg stehen mindestens noch 40 mehr oder weniger geduldig wartende Bürger. Ein schon etwas älterer Herr verlässt den Ort der Stimmabgabe und schaut sich die Menschenschlange kopfschüttelnd an. „Also in der DDR wär dit nich passiert“, sagt er so laut, dass es alle hören müssen. Er grinst dabei, und viele Wartende müssen lachen. Einige beginnen danach sogar, miteinander zu reden.
Elegantere Lösung zu DDR-Zeiten
Natürlich hatte der Witzbold auf das unmittelbare Chaos in und vor den Wahllokalen abgehoben – und trotzdem nicht ganz recht: In der DDR gab es bis auf die „Kandidaten der Nationalen Front“ nicht all zu viel zu wählen. Und wenn doch manipuliert werden musste, dann geschah dies meist viel eleganter. Auf diese plumpe und öffentlich wahrnehmbare Art und Weise Wahlzettel zu vertauschen oder gar nicht erst auszugeben, an Nichtwahlberechtigte zu verteilen oder komplett gar nicht erst da zu haben – das konnte man so bislang nur am 26. September in Berlin beobachten.
Dabei war der chaotische Wahlsonntag ein Versagen mit Ansage. Auch wenn Berlins Wahlleiterin Petra Michaelis das ein paar Tage anders sah, ehe sie die Konsequenzen zog und zurücktrat. Das Versagen deutete sich schon Anfang Juni an, als bekannt wurde, dass sich einige Hundert Menschen offensichtlich nur deshalb als Wahlhelfer gemeldet hatten, weil sie auf diese Weise schneller an eine Anti-Corona-Impfung kamen.
Massenflucht von Wahlhelfern
„Allein die Bearbeitung dieser Absagen kostet das Wahlamt Zeit und Kraft, die für andere Aufgaben fehlen. Schlimmer wiegt aber das Risiko unzuverlässiger Wahlhelfer, da am Wahltag wirklich jede und jeder Ehrenamtliche zählt“, beklagte sich Christiane Heiß (Die Grünen), Tempelhof-Schönebergs zuständige Bezirksstadträtin, gegenüber dem „Tagesspiegel“. Sie sollte mit ihren Ahnungen recht behalten. Wenige Tage vor der Wahl begann eine kleine Massenflucht von Wahlhelfern, sodass zum Beispiel in Pankow kurzfristig eine Hotline für spontane Freiwillige geschaltet wurde.
Wie das Magazin „Spiegel“ unlängst herausfand, hatte Bundeswahlleiter Georg Thiel die Verantwortlichen in der Hauptstadt schon einige Tage vor dem Chaos-Wahltag vor Problemen bei der Briefwahl gewarnt. Zeitgleich mit der Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl fand die Wahl zu den Bezirksparlamenten statt, bei denen auch EU-Ausländer und Jugendliche ab 16 Jahren wählen durften.
Berliner Politik schließt Wiederholung der Wahl aus
Laut Ansicht des Bundeswahlleiters hätte es dabei die Möglichkeit gegeben, dass Menschen, die nur zu den Bezirkswahlen abstimmen durften, unberechtigterweise auch Wahlzettel für die Bundestagswahl mitsendeten. Was sich Thiel nicht vorstellen konnte: Auch in einigen Wahllokalen bekamen Nichtberechtigte die volle Anzahl Wahlzettel ausgehändigt. Trotz der vielen Pannen wird in der Berliner Politik bislang nicht davon ausgegangen, dass die Wahl zu Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirksparlamenten und Volksentscheid in Gänze wiederholt werden müsste.
Doch die Nervosität unter den Verantwortlichen dürfte wachsen. Es könnte nämlich durchaus passieren, dass nach der Verkündung des amtlichen Endergebnisses am 14. Oktober tatsächlich noch der Verfassungsgerichtshof angerufen wird, um eine Neuwahl zu erstreiten.
Text: Ulf Teichert, Bild: IMAGO/Emmanuele Contini