Tempo 50 statt Tempo 30? Mobilitätsforscher Oliver Schwedes sieht die Pläne des Senats kritisch
In Berlin sorgt die geplante Rücknahme zahlreicher Tempo-30-Zonen auf Hauptstraßen für hitzige Debatten. Während der Senat mit verbesserter Luftqualität argumentiert, warnen Kritiker wie die Deutsche Umwelthilfe vor einem Rückschritt in eine veraltete, autozentrierte Stadtplanung. Was bedeuten die geplanten Änderungen für Umwelt, Verkehrssicherheit und die soziale Gerechtigkeit im Stadtraum? Darüber haben wir mit dem Mobilitätsforscher Dr. Oliver Schwedes (58) gesprochen, der sich seit Jahren mit den politischen und gesellschaftlichen Dimensionen von Verkehrsplanung beschäftigt. Von 2014 bis 2023 war er Gastprofessor für Verkehrsplanung und -politik an der TU Berlin.
Herr Schwedes, wie bewerten Sie die Begründung des Senats, dass sich die Luftqualität verbessert habe und daher Tempo 30 auf vielen Straßen nicht mehr nötig sei?
Oliver Schwedes: Im Grunde geht es hier um zwei Dinge, einerseits gab es für die Einführung der Tempo-30-Zonen offensichtlich umweltpolitische Begründungen, also die Luftreinheit, andererseits wurden aber auch verkehrstechnisch positive Effekte erwartet. Das durfte man damals aber nicht sagen, das war nicht opportun – so wie heute auch wieder. Der Deutsche Städtetag setzt sich schon seit Ende der 80er Jahre für Tempo 30 innerorts ein. Belege für positive Effekte wie bessere Luft, weniger Verkehrstote und -verletzte durch Tempo 30 in Städten gibt es auch, allerdings nur im Ausland. Natürlich, wenn die Luft jetzt wieder besser ist, kann man das rückgängig machen. Allerdings ist auch das recht kurzsichtig, weil in den kommenden Jahren eine Verschärfung der Grenzwerte seitens der EU erwartet wird. Diese werden 2030 in Kraft treten und orientieren sich an den UN-Kriterien. Wenn sie kommen, hat Berlin ohnehin wieder ein Problem.
Warum gibt es die erwähnten Studien nur im Ausland und nicht in Deutschland?
Eine gute Frage, bisher mangelte es an Interesse oder Möglichkeiten. Es gibt eine ganze Reihe von mächtigen Interessengruppen, die das nicht wollen. Die Autofahrer-Lobby in Deutschland ist so stark, dass sie bisher nicht durchsetzbar waren. In anderen Ländern ist das anders, da hat die Wissenschaft immerhin so viel Freiheit, dass Studien zu Tempo-30-Effekten gemacht werden. Das muss ja auch erstmal finanziert werden. Auch die Unfallforschung der Versicherer, die vom Gesamtverband der Versicherer finanziert wird, ist bisher nicht selbst auf die Idee gekommen.
Wegner betont immer wieder, so auch jetzt erneut, man wolle lediglich die Mobilität in Berlin beschleunigen. Ist Tempo 50 denn am Ende so viel schneller?
Die internationale Forschung ist bei diesem Thema schon viel weiter. Da werden der Abbau von Ampeln, die Einführung von Kreisverkehren statt Kreuzungen und auch Geschwindigkeitsreduktion, um den Verkehrsfluss zu ertüchtigen, diskutiert. Die Studien dort zeigen, dass man mit Kreisverkehren den Verkehrsfluss verbessern kann, anstatt an einer Ampel zu stehen. Oder statt mit einer gewissen Grün-Schaltung die Autofahrenden dazu zu ermutigen, besonders schnell über die Kreuzung zu fahren und damit Unfälle zu provozieren. Es gibt noch viele weitere Beispiele. Im Ergebnis ist die Ampel gar nicht so sicher wie lange gedacht. Statt mit 50 in der Stadt ein ständiges Stop-and-go zu provozieren, kann ich mit Tempo 30, abgesehen von der Reduktion von Toten, Unfällen und Lärm, auch den Verkehrsfluss verbessern. Auch das ist ein Effekt, der immer wieder nachgewiesen wurde.
Die Deutsche Umwelthilfe will rechtliche Schritte gegen die Senatspläne prüfen. Wie schätzen Sie die Chancen ein?
Unter anderem wegen der Schulwege will die CDU die Pläne ja jetzt nochmal prüfen. Allerdings nicht nur wegen der Klage der DUH, sondern auch wegen des Einspruchs des Koalitionspartners SPD, der sich da zunehmend durch die eigenen Wähler:innen bedrängt fühlt. Deshalb sollen die betroffenen Straßen nochmals auf Schulen, Kitas und ähnliche Einrichtungen hin geprüft werden. Als Kompromiss wird man wohl hier und da einlenken und Tempo 30 beibehalten.
Verkehrssenatorin Bonde verweist auf fehlende Erfahrungswerte bei „hochfrequentierten Schulwegen“. Stimmt das denn?
Eigentlich ist das ziemlich einfach. In Baden-Württemberg wird beispielsweise eine Stunde vor Schulbeginn gezählt, wie viele Kinder eine Straße entlang kommen. Wenn das über 100 sind, dann sollte dort Tempo 30 eingeführt werden. Das könnte Berlin genauso oder ähnlich machen, eine riesige Verkehrserhebung ist gar nicht nötig. Vorbilder und Methoden gibt es, für mich scheint das vielmehr eine Ausrede und Mangel an politischem Willen zu sein.
Die Nächte sollen auf 230 Kilometern mit Tempo 30 beruhigt werden. Kann man so effektiven Lärmschutz betreiben – oder braucht es mehr?
Unter dem Kriterium Lärmschutz gebe es noch viel mehr Straßen, die man in den Blick nehmen könnte. Besonders häufig dort, wo Menschen leben, vor allem untere Einkommensbezieher, die auf günstige Mieten angewiesen sind. Denn die gibt es nun mal häufig an viel befahrenen Straßen. Bei den Betroffenen führt das schließlich zu starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Rechnen Sie damit, dass der Senat die Maßnahmen rückgängig macht, etwa wenn Grenzwerte wieder gerissen werden?
Wenn die EU nicht da wäre, könnte es schon sein, dass eine CDU-geführte Regierung verkehrspolitisch vieles einfach ignoriert. Da diese EU-Grenzwerte aber mit Auflagen und Strafzahlungen verbunden sind, bin ich mir sicher, dass einige Maßnahmen im Falle von nicht eingehaltenen Luftreinhaltewerten auch wieder rückgängig gemacht werden. Hinsichtlich der Unfälle sieht das schon anders aus, da müsste es erstmal jemanden geben, der das auch genau erhebt und ernst nimmt. Die Schwerstverletzten, die ihr Leben lang unter den Folgen eines Unfalls leiden, werden in Deutschland statistisch gar nicht erhoben.
Paris, Barcelona – man hört von vielen Erfolgen beim Mobilitätswandel in Europa, nur Berlin scheint einen Gegentrend zu bilden. Woran liegt das?
Das ist ein eher deutsches Problem. In fast allen Städten und Gemeinden erleben wir seit einiger Zeit wieder Rückschritte beim Mobilitätswandel, nachdem es für eine Weile eher nach vorne ging. Selbst im progressiven Hamburg gab es zuletzt ein Moratorium für den Wegfall von Parkplätzen. Und in Berlin ist dieser Gegenwind zuletzt eben noch stärker geworden. Das ist ja keine konservative Verkehrspolitik der CDU mehr, sondern schon reaktionär. Man nimmt Dinge zurück, die die Vorgänger demokratisch legitimiert eingeführt haben, teilweise mit aufwändigen Beteiligungsverfahren. Eine Politik nicht weitertreiben, das ist normal, doch diese Rückschritte, das ist unter Demokraten politisch unredlich.
Interview: Sascha Uhlig