Keine Großstadt verfügt über so viel Forst für Erholungszwecke wie Berlin
Leider liege Berlin nicht mehr „wie ein Vogel im Neste in Wälder gebettet“, klagt der sozialistisch gesonnene Pfarrer und Autor Hermann Kötschke 1913 in einem kämpferischen Artikel im Groß Berliner Kalender über den Zustand der Berliner Umwelt. Man habe „Waldverwüstung betrieben, die allen vernünftigen Grundsätzen Hohn spricht“. Der Mann war durch und durch ein Grüner. Er beklagte frühe Rodungen für die Dorotheen- und die Friedrichstadt, Schloss Charlottenburg, aber vor allem die nach 1900 aktuellen Fälle: Exerzierplatz Eichkamp mit 70 Hektar, Kolonie Neugrunewald auf 13,8 Hektar, Grunewaldrennbahn mit 90 Hektar. Auch eine Fläche für eine Automobilübungsstraße wurde freigegeben.
Dichte Bebauung
Noch schlimmer als im Grunewald falle der Waldverlust im Norden und Osten ins Gewicht, klagt der Mann, „denn die dort lebende Bevölkerung ist arm, hat keine Automobile, um ins Grüne zu verreisen“. Er fordert Wald „in Kinderwagennähe“. Trotzdem durfte die Johannistaler Fluggesellschaft 242 Hektar Wald aus Landesbesitz abholzen. „Den Berlinern wird der Wald entzogen, die ihn nötiger haben als das tägliche Brot“, vor allem wegen „der unheimlich dichten Bebauung Berlins, bei der 77 Bewohner auf ein Haus kommen gegen z.B. 8 in London…“.
Auch den Holzklau durch die Bevölkerung vergaß Hermann Kötschke nicht. Sein Fazit 1913: „Die Stadt Berlin hat heute keine Wälder mehr.“ Und das, obwohl bereits damals durchaus anerkannt war, dass die Wälder „die frische Luft in den rauch- und staubgeschwängerten Dunstkreis der Stadt zuführen“ und „dem zermürbten Gemüt wieder Schwingen zu verleihen“.
Rasantes Wachstum
Immer drängender stellte sich zudem das Problem der Trinkwasserversorgung. Zwischen 1861 und 1910 hatte sich die Bevölkerung Berlins von 500.000 auf zwei Millionen vervierfacht. Selbst in den preußischen Behörden war mittlerweile akzeptiert, dass irgendetwas zur Milderung der Umweltkrise in der rasant gewachsenen Stadt geschehen musste. Bereits im Januar 1893 hatte der Magistrat der Stadt Berlin einen Antrag an die preußische Regierung gerichtet mit dem Ziel, „aus Gründen der öffentlichen Gesundheitspflege größere Gelände in unseren Gemeinschaftsbesitz zu bringen, um so der wachsenden Bevölkerung der Reichshauptstadt für die Zukunft die Gelegenheit der Erholung und Erfrischung im Freien und im Walde zu sichern.“
Andere Prioritäten
Bis zum Beginn ernsthafter Verhandlungen verstrichen noch fast 20 Jahre, dann lag Berlin, den Nachbarstädten und den Kreisen Teltow und Niederbarnim ein Angebot der preußischen Regierung über den Verkauf von 11.375 Hektar Wald vor. Die Fläche umfasste den Grunewald, den Potsdamer Forst nördlich der Potsdamer Bahn, den Forst Grünau-Dahme, die Köllnische Heide, die Forste Köpenick, Schönwalde, Oranienburg und Tegel sowie die Jungfernheide. Als Verhandler mit dem preußischen Fiskus agierte seit 1. April 1912 der Zweckverband Groß Berlin, zu dem sich die Stadt mit den Umlandgemeinden zusammengetan hatte.
In dessen Prioritäten hinsichtlich kommunaler Aufgaben stand als Punkt 3: „Erwerbung und Erhaltung größerer von der Bebauung freizuhaltender Flächen (Wälder, Parks, Wiesen, Seen, Schmuck-, Spiel- und Sportplätze).“ 172 Millionen Mark nannte die Regierung zunächst als Preis – zwei Mark je Quadratmeter, was dem entsprach, was im Falle von Volksparks zu zahlen war, aber für um die Stadt herum liegende Waldungen viel zu hoch erschien. Kötschkes Kommentar: „Hier gibt heute nicht mal der Spekulant diese Summe“.
Erfolgreich verhandelt
Berlins Oberbürgermeister Adolf Wermuth beklagte zu dieser Zeit seine geringe Macht im Zweckverband. Er saß zwar der Verbandsversammlung vor, aber die Stadt Berlin verfügte dort nur über 41 von 101 Sitzen, im Verbandsausschuss über sechs von 16 Sitzen. Berliner Interessen durchzusetzen bedurfte steter Überzeugungsarbeit. Tatsächlich gelang es, zum Glück aller folgenden Generationen, diesen Traum wahr werden zu lassen – noch dazu mitten im Ersten Weltkrieg, als die Berliner Bevölkerung ernsthaft hungerte.
Der Zweckverband kaufte am 27. März 1915 vom Preussischen Staat für nunmehr 50 Millionen Goldmark insgesamt rund 10.000 Hektar von den Förstereien Grunewald, Tegel, Grünau, Köpenick, die zu dieser Zeit noch nicht zu Berlin gehörten, sowie von der Försterei Potsdam. In den Waldgebieten lagen Seen mit bester Wasserqualität, wie der Schlachtensee, die Krumme Lanke oder der Müggelsee, Gewässer, die noch heute Berlins Trinkwasser liefern.
Bessere Pflege
Der Dauerwaldvertrag verpflichtete den Käufer, die erworbenen Waldflächen weder zu bebauen noch weiterzuverkaufen, sondern auf Dauer für die Bürger als Naherholungsflächen in Gestalt von Waldgelände zu erhalten. Für den Fall, dass es doch zu Veräußerungen kommen sollte, wurde bestimmt, dass der Erlös zum Erwerb entsprechender Ersatzflächen zu verwenden sei. Teile der erworbenen Waldfläche, wie die Parforceheide, lagen und liegen auch heute noch außerhalb der Berliner Stadtgrenze in Brandenburg. Sie werden seit der Wiedervereinigung von Ost- und West-Berlin wieder von den Berliner Forstämtern bewirtschaftet.
Herrmann Kötschke hatte 1913 in Vorfreude auf einen solchen Jahrhundertvertrag, der die „Berliner von der großen Sorge um den Wald- und Wiesengürtel befreien“ werde, geschrieben: „Ist der Zweckverband erst Eigentümer, kann er die Wälder besser pflegen und vor allem den Nadelwald mehr mit Laubwald durchsetzen.“ Das liest man auch heute noch in den Aufgabenbeschreibungen der Waldverständigen. Seinen endgültigen Niederschlag in Form eines Gesetzes fand der Jahrhundertvertrag zur Erhaltung des Waldes im Landeswaldgesetz des West-Berliner Senats vom 30. Januar 1979, das seit 1990 für ganz Berlin gilt.
Datum: 18. April 2020 Text: Marita Tkalec Bild: imago Images/Schöning
Den vollständigen Beitrag finden Sie online bei der Berliner Zeitung.