Erstmals wird die Berliner Zeitung verteilt
Überwindung von Kriegsschäden Die 1. Nummer der Berliner Zeitung gelangte am 21. Mai 1945 zum Verkauf. Umdrängte Zeitungsverkäuferin in Berlin. Einleitung

Vor genau 75 Jahren, am 21. Mai 1945, erscheint erstmals die Berliner Zeitung. Mit ihrer einzigartigen Tradition stellt sie sich jetzt dem Wettbewerb um die Zukunft


In der Ausgabe vom 21. Mai schreiben die Eigentümer des Berliner Verlages, Silke und Holger Friedrich, anlässlich des Erstausgabe-Jubiläums der Berliner Zeitung über ihr Woher und Wohin. Unter dem Titel „Der Wert unabhängiger Medien“ ist folgender Beitrag zu lesen:


An diesem Donnerstag jährt sich der 75. Jahrestag der Gründung der Berliner Zeitung durch die Rote Armee.

Sie war eine der ersten Tageszeitungen, die nach Kriegsende in Deutschland erschienen.

Sie widmete sich der Überwindung des Nationalsozialismus.

Sie behauptet sich bis heute.

Sie ist eine Institution.

Es sollte daher gelingen, einen Glückwunsch zu formulieren. Doch es ist ein schwieriges Unterfangen, denn im Jahr 2020 fällt es der deutschen Gesellschaft nicht leicht zu akzeptieren, dass auch sowjetische Offiziere nach diesem Zivilisationsbruch der deutschen Bevölkerung die Hand reichten.

Sozialdemokraten und Kommunisten sowie sowjetische Offiziere waren die Ersten, die in Berlin Informationen bereitstellten, über Kriegsverbrechen aufklärten, Kriegsverbrecher suchten. Sie waren die Ersten, die Schritte zum Aufbau einer zivilen demokratischen Ordnung im zerstörten Berlin gingen. Amerikaner, Engländer und Franzosen folgten nicht minder engagiert. Doch sie folgten, später. Bald trennten sich die Wege der Alliierten.

Die Berliner Zeitung war Zeugin großer Veränderungen. Sie steht als Institution für die Möglichkeit, dass sich fest gefügte Gewissheiten ändern, und sie hat diese Änderungen mit intellektueller Unabhängigkeit und Anstand begleitet.

Die Berliner Zeitung wurde im politischen Niemandsland einer Berliner Trümmerwüste gegründet.

Sie hat in der entstehenden DDR versucht, sich zu behaupten. Obwohl sie dem Zentralkomitee der SED unterstellt wurde, hat sie sich gegen interne und externe Übergriffigkeit nach Kräften verwahrt. Anekdoten, wie zwischen den Zeilen Dogmen der DDR-Nomenklatura unterlaufen wurden, füllen Abende.

Die Berliner Zeitung hat den Diskurs mit dem Ende der DDR geweitet, das Blatt aktiv für Andersdenkende geöffnet; hat in der Transformation Konflikte intern gelebt, unabhängig, kontrovers. Es hat lange gedauert, mehr als einen Versuch benötigt, bis dies spät gelang. Die damals Involvierten tragen ihre Wunden mit sich, auf jeder Seite.

Nach der Wende wurde die Berliner Zeitung oft verkauft, ohne dass sie jemals ihre Seele verkauft hätte. Sie hat Unabhängigkeit bewiesen und beweist sie auch heute. Sie ließ sich nicht korrumpieren, vielleicht ließ sie sich in milder Form domestizieren. Doch keinesfalls machte sie Investoren oder Parteien glücklich. Sie hat nie ihre Anständigkeit aufgegeben, hat sich gegen das Agenda-Setting verwahrt. Journalismus auf Grundlage von Denunziation war ihr zuwider.

Somit trägt diese Zeitung eine große Tradition: agierend in zwei deutschen Gesellschaftssystemen und als Ost-West-Labor. Vielleicht stellt sie sogar eine einzigartige Tradition zwischen den aktuellen Titeln in der deutschen Presselandschaft dar. Und gerade deshalb stellt sie sich dem Wettbewerb um bessere Ideen für die Zukunft. Sie taugt nicht zur Bewahrung überholter Vorstellungen, sie ist Plattform für Aufklärung, Einordnung und Diskurs abseits von extremistischen oder gewaltverherrlichenden Standpunkten.

Das war unser Eindruck vor dem Kauf des Berliner Verlages, und dieser Eindruck hat sich seit dem Vollzug des Eigentümerwechsels im November vergangenen Jahres bestätigt. In den letzten Monaten durften wir erfahren, was es bedeutet, dem geschlossenen westdeutschen Verlagswesen als ostdeutsch Sozialisierte beizutreten. Und wir durften erleben, dass die Berliner Zeitung hält, was wir uns für sie versprochen haben. Diese Entwicklung ist eine Verpflichtung, der wir sorgsam nachkommen wollen.

Daher stehen wir weiterhin mit hohem persönlichen Engagement und der notwendigen Demut bereit, dieser großen Tradition Raum und Möglichkeit zu verschaffen. Wir wollen die Räume erhalten, auch ausbauen, in denen sich Diskurs entfalten kann.

Beispielhaft steht dafür das neue Format Zeitenwende. Sie finden online – exemplarisch genannt – drei Texte aus drei Generationen: Klaus Wolfram, eine Entgegnung von Ilko-Sascha Kowalczuk sowie Max Czollek. Nehmen Sie sich die Zeit, lesen Sie. Lesen Sie die Texte bitte bis zum Ende. Und versuchen Sie sich an einer eigenen Einschätzung. Sie werden sehen: Das längere Lesen über verschiedene Perspektiven bereichert.

So fällt es uns dann doch leicht, einen Glückwunsch zu formulieren, denn das Wertegerüst dieser Zeitung ist intakt. Jeder, der die demokratische Grundordnung schätzt, den fairen, regelbasierten Wettbewerb und den sozialen Ausgleich, wird um den Wert der freien Presse wissen. Dem folgend ist der Gedanke nicht abwegig, dass es dazu unabhängiger Medien bedarf. Die Berliner Zeitung konnte ihre Unabhängigkeit bewahren. Sie ist Teil unserer Geschichte, und sie wird Teil unserer Zukunft sein.

Herzlichen Glückwunsch!


Datum: 20. Mai 2020, Text: Silke und Holger Friedrich, Bild: Eva Kemmlein, Berliner Stadtarchiv