Kuh in Schöneberg

Eine Kuh mitten in der Großstadt? Dieser Teil unserer Serie „Verborgenes Berlin“ führt uns nach Schöneberg. Dort ist zu besichtigen, welch große Rolle die Landwirtschaft einst im Berliner Alltag spielte. Außerdem findet sich dort ein besonderes Zeugnis des Autozeitalters.

Es scheint in Berlin eine Art Tradition zu sein, die Stadtgeschichte in den breiten Gehwegen zu verewigen. Ein Beispiel ist das bunte Mosaik (siehe großes Foto), das sich direkt vor dem Hauseingang der Steinmetzstraße 22 in Schöneberg auf dem Boden befindet: Es zeigt eine sympathische Kuh mit prall gefülltem Euter und erinnert daran, dass im Hinterhof des Gebäudes bis 1982 die 31 Kühe des Milchhofs Mendler standen, der letzten Hofsennerei der Berliner Innenstadt innerhalb der Ringbahn.

80.000 Liter Milch im Hinterhof verkauft

Ein Teil des Hinterhofs beherbergte einst eine als Verkaufsraum genutzte Remise, in der unter anderem mehr als 80.000 Liter Milch pro Jahr verkauft wurden. Die Ställe befanden sich in einem separaten Teil des Hofs. Schweine, Hühner und Hasen, die in den Kellerräumen gehalten wurden, vervollständigten die Menagerie.

Nach seiner Umsiedlung nach Rudow im Jahr 1982 vergrößerte sich der landwirtschaftliche Betrieb auf 80 Milchkühe, 300 Zuchtschweine und 30 Hektar Anbaufläche. Im Jahr 1996 wurde die Schweinehaltung eingestellt, dafür wurde ein Reitstall eröffnet. Im Hofladen kann man auch heute noch Milch und Fleischprodukte vom Hof kaufen.

25.000 Milchkühe in Berliner Arbeiterkiezen

Im Jahr 2018 zählte die Hauptstadt, in der noch immer 1.900 Hektar (19 Quadratkilometer) Land von 41 Betrieben landwirtschaftlich genutzt werden, offiziell mehr als 1.200 Zuchttiere, wenngleich sich der Hofbetrieb heutzutage ausschließlich im Berliner Umland abspielt. 1928 lebten vor allem in den Hinterhöfen der Arbeiterviertel im Herzen der Stadt rund 25.000 Milchkühe.

Praktisch in jeder Straße der Berliner Innenstadt befand sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Hof, von dem die Bewohner täglich Butter, Käse und frische Milch beziehen konnten. Diese Ställe deckten Ende der 1920er-Jahre ungefähr 17 Prozent des Berliner Bedarfs an Milchprodukten – und brachten Gestank, Lärm und mangelnde Hygiene mit sich. In West-Berlin existierten wegen der Mauer bis Anfang der 1980er-Jahre innerstädtische Milchbetriebe.

Wohnen über dem eigenen Parkplatz

Einen Block weiter, in der Kirchbachstraße 1 und 2, stehen zwei außergewöhnliche Zwillingsbauten. Sie beherbergen je ein Parkhaus mit einer darüberliegenden Wohnanlage. Seit ihrer Entstehung ist das Gebäude mit der Nummer 2 unverändert geblieben, das Haus Nummer 1a wurde 2015 durch den britischen Streetart-Künstler Phlegm in ein fantasievolles Kunstwerk verwandelt.

Hinter diesen comicartigen Graffiti am Parkhaus steckt Gesellschaftskritik

Heute wirkt der Unterschied zwischen den beiden Fassaden spektakulär. Das 1977 bis 1979 nach Plänen von Peter Heinrichs und Joachim Wermund errichtete, denkmalgeschützte Ensemble steht für den „automobilen Imperativ“ jener Zeit: Damals wurden ganze Stadtteile eingeebnet, um Platz für Autobahnen zu schaffen.

Entgleisungen der modernen Gesellschaft

Über dem eigenen Parkplatz zu wohnen, erschien vielen Menschen als das Nonplusultra. Jeweils acht bullaugenähnliche Entlüftungsöffnungen des Parkhauses an der Fassade verleihen dem Bau den Anschein einer Fabrik. Eine ähnliche Assoziation weckte die Gestaltung offenbar auch bei dem Illustrator Phlegm, der immer wieder die Entgleisungen der modernen Gesellschaft aufgreift. Hier legt er das Augenmerk auf das Maschinelle des Gebäudes und interpretiert die vorgelagerten Sichtschutztafeln des Parkhauses als Panels eines Comics.

In diesem begegnet man einer spindeldürren Figur, deren Kopf halb im Ausschnitt ihres großen Pullovers verschwindet. Die Figur steigt einen stetig wachsenden Berg von Geräten hinauf, bis sie der Masse nicht mehr Herr wird und in ihr untergeht. So wird der Mensch reduziert auf die Rolle eines bloßen Dieners und Konsumenten, der
unter der Last seiner Käufe schließlich zu einer Art Cyborg mutiert.

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Verborgenes Berlin
Jonglez Verlag
464 Seiten
19,95 Euro
www.jonglezverlag.com

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Datum: 4. Februar 2021, Text: red, Bilder: Thomas Jonglez