Was Stadtführer Gunter Martin am einstigen Grenzstreifen so fasziniert.

Einst war er verbotene Zone mitten in der Stadt. Heute ist der frühere Mauerstreifen wieder zugänglich. Nicht nur für die menschlichen Bewohner Berlins. Der Biologe Gunter Martin beobachtet, wie Tiere und Pflanzen das einstige Mauergebiet wieder beleben. Auf Führungen durch das ehemalige Grenzgebiet teilt er sein Wissen über das neue Leben dort, wo früher niemand sein durfte.

Stelle verloren

Das Leben von Gunter Martin – Jahrgang 1943, geboren in Leipzig – ist nicht nur glücklich verlaufen. Der Diplom-Biologe hatte in Berlin, am Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR, einen anspruchsvollen Beruf. Er wirkte daran mit, die Bedingungen von Arbeitern in den Volkseigenen Betrieben zu verbessern. Doch dann, Martin war 46 Jahre alt, fiel die Mauer. Bald danach wurde das Institut abgewickelt, er verlor seine Stelle und hatte es nicht leicht auf dem Arbeitsmarkt. Er absolvierte Bewerbungstrainings, lernte, dass ABM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und LKZ für Lohnkostenzuschuss steht und arrangierte sich mit seinem Schicksal im vereinten Deutschland.

Voller Leidenschaft

Dass Gunter Martin heute nicht verbittert ist über den Bruch in seiner Biografie, hat er wohl der Biologie zu verdanken. „Als klar wurde, dass uns alte Ostler keiner mehr haben wollte, habe ich mich ganz meiner Leidenschaft für die Natur gewidmet“, erzählt der 75-Jährige. Er wurde freiberuflicher Stadtnaturführer und hielt Kurse an Volkshochschulen und Umweltbildungseinrichtungen ab.

Seit fast 20 Jahren bietet Martin auch Exkursionen für den Umweltladen in Mitte an, eine Einrichtung des Bezirksamts. Ein Ausflug steht unter dem Motto „Vom Mauerspecht zum Hausrotschwanz – Leben im ehemaligen Grenzgebiet“. Vom Nordbahnhof aus geht es fast vier Stunden lang entlang des Mauerstreifens. Vor allem im Park am Nordbahnhof an der Gartenstraße lasse sich bestens beobachten, wie die Natur zurückkehrt.

Zartrosa Blüten

Seit dem Mauerfall darf sich auf einem Großteil der Fläche „Spontanvegetation“ entwickeln. „Zu DDR-Zeiten wurde das Grenzgebiet wegen der Schussfreiheit gemäht, gepflügt und mit Unkraut-Ex behandelt“, erzählt Martin. Auf dem Ödland siedelten sich zunächst eher anspruchslose Pflanzen an. Stauden wie die zurzeit auffällig gelb blühende Goldrute, die gut einen Meter hoch werden kann. Büsche wie die Heckenrose, die zartrosafarbene Blüten hat und Bäume wie Weide, Robinie, Pappel, vor allem aber Birke, Birke, Birke. Im Park am Nordbahnhof entstand auf einer Seite des Weges Richtung Liesenbrücke ein lichtes Birkenwäldchen.

Junge Naturforscher

Gunter Martin wuchs im sächsischen Eilenburg an der Mulde auf. Nachmittags stromerte er durch die Flussauen und sammelte alles ein, was kreucht und fleucht. „In leeren Chlorodont-Schachteln habe ich Frösche, Mäuse und andere kleine Tiere mit nach Hause geschleppt“, erzählt er. Eine Zeit lang hielt er sogar einen jungen Turmfalken auf der Fensterbank.

Als er in der siebten Klasse war, wurde die „Arbeitsgemeinschaft junge Naturforscher“ eingerichtet. Natürlich war Gunter Martin dabei. Nach dem Abitur wollte er Biologie studieren. Doch es gab zu viele Bewerber. So machte Martin zunächst in Güstrow eine Facharbeiterausbildung zum Milchwirtschaftslaboranten. 1964 begann er, Biologie an der Berliner Humboldt-Universität zu studieren.

Heute weiß Gunter Martin die durch den Mauerfall gewonnene Freiheit zu schätzen. Obwohl der Zusammenbruch der DDR seine Arbeitskarriere zerstört hat, ist er froh, dass die Mauer gefallen ist. „Schon als sie gebaut wurde, habe ich gedacht: Das ist ja wie im Mittelalter, das kann doch keinen Bestand haben“, sagt er.

Datum: 10. Oktober 2019 Text: A. Brüning Bild: Benjamin Pritzkule

Dieser Beitrag entstand mit Unterstützung der Berliner Zeitung