Weil Corona den Zugang zum Beispiel zu Alten- und Pflegeheimen immer noch erschwert und auch deswegen mehr Platz als sonst benötigt wird, gibt es in Berlin zahlreiche neue Wahllokale.
Der kommende Wahlsonntag dürfte für Menschen mit Handicap problematisch ausfallen: Obwohl viele Berliner bereits die Briefwahl und die Urnenabstimmung in den bezirklichen Bürgerämtern genutzt haben, werden an diesem Sonntag Hunderttausende Wähler in insgesamt 2.257 Wahllokalen erwartet. Im Vergleich zum Jahr 2017 gibt es zwar 478 Wahllokale mehr, andererseits jedoch kamen viele barrierefreie Räumlichkeiten etwa in Alten- und Pflegeeinrichtungen pandemiebedingt nicht mehr als Wahllokale infrage.
So konnte es passieren, dass bei der Suche nach neuen Standorten nicht immer optimale Lösungen in Sachen Barrierefreiheit gefunden wurden.
Ein langer Weg zur Wahlurne
Ein Umstand, der auch Erich Passarge (96) aus Treptow-Köpenick Schwierigkeiten bereitet. Weil er sein Stammwahllokal diesmal nicht nutzen kann, hätte der hochbetagte Senior nun eine halbe Stunde Gehzeit einplanen müssen, um in das neue Wahllokal im Archenhold-Gymnasium in Niederschöneweide zu gelangen. Für ihn eine unmöglich zu bewältigende Distanz. Deshalb hat er sich in diesem Jahr für die Briefwahl entschieden.
Auf Nachfrage bestätigte das Treptow-Köpenicker Bezirksamt, dass es in bestimmten Gebieten an einer ausreichenden Zahl von geeigneten Räumlichkeiten fehlen könne. Dennoch, so beschreibt die Pressesprecherin Sabrina Krimse die grundsätzliche Haltung des Bezirksamtes, sei es „dem Bezirk ein wichtiges Anliegen, in bestmöglicher Weise auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen die Wahrnehmung ihrer politischen Rechte zu ermöglichen.“ Tatsache allerdings ist, dass in Treptow-Köpenick nur 56,8 Prozent der Wahllokale barrierefrei sind – der schlechteste Wert aller Berliner Bezirke.
Nur in 133 der 234 Wahllokale im Südostbezirk stoßen Menschen mit körperlichen Einschränkungen auf keinerlei Schwierigkeiten. Vorzeigebezirk in dieser Hinsicht ist Reinickendorf. Hier weisen 153 der 156 Wahllokale keinerlei Barrieren auf.
Gute Vorsätze und viele Hindernisse
Bei der Suche nach Wahllokalen sei die Barrierefreiheit immer erstes Kriterium, sagt auch Lichtenbergs Stadtrat Kevin Hönicke (SPD). Dennoch müsse immer auch die gesetzlich festgelegte Mindestgröße beachtet werden. Wahllokale müssen Platz für zehn Wahlhelfer mit zehn Tischen und Stühlen sowie drei Wahlurnen und zwei Wahlkabinen aufweisen. Darüber hinaus müssen Wahlkabinen so gestellt werden können, dass das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt. Deshalb habe man in Kauf genommen, dass Wähler dieses Mal auch etwas weitere Wege zurücklegen müssen.
Zwar habe man im Vorfeld unter anderem auch die Beauftragte für Menschen mit Behinderung an der Suche geeigneter Räumlichkeiten beteiligt, doch konnten auch mit deren Unterstützung leider keine weiteren geeigneten Standorte gefunden werden, umschreibt Hönicke das für fast alle Berliner Bezirke geltende Problem.
Absoluter Spitzenreiter bei den Hindernissen
Während 2017 noch 16,3 Prozent aller Wahllokale nicht barrierefrei waren, hat sich diese Quote vor den jetzt anstehenden Wahlen auf 17,7 Prozent erhöht. Hinzu kommt, dass 12,7 Prozent aller Wahllokale von Menschen mit Behinderungen nur mit Hilfe anderer nutzbar sind. Insgesamt gelten 686 Berliner Wahllokale für behinderte Menschen als nur mit Hilfsperson oder gar nicht nutzbar. Hinter Negativ-Spitzenreiter Treptow-Köpenick (43,2 Prozent) folgen Tempelhof-Schöneberg (37,3), Marzahn-Hellersdorf (36,7) und Steglitz-Zehlendorf (35,8). Dominik Peter vom Berliner Behindertenverein äußerte sich im rbb enttäuscht darüber, dass Berlin beim barrierefreien Wählen nicht weiter ist.
Er kenne viele Menschen im Rollstuhl. die am Sonntag gern im Wahllokal wählen wollen. Zwar gäbe es die Möglichkeit, auf ein anderes als das nächstgelegene Wahllokal auszuweichen. Viele jedoch scheuten den Weg. „Diese Menschen sind frustriert, und es entsteht wieder einmal das Gefühl, dass niemand an sie gedacht hat“, beklagt Peter.
Kaum kreativ Lösungen
Mit seiner schriftlichen Anfrage an den Senat hatte der Treptow-Köpenicker SPD-Abgeordnete Lars Düsterhöft vor wenigen Wochen die Diskussion um die Barrierefreiheit der Berliner Wahllokale ins Rollen gebracht. „Wenn wir wollen, dass Barrierefreiheit eine Selbstverständlichkeit wird, dann dürfen wir es nicht akzeptieren, dass auch nur ein Wahllokal nicht barrierefrei ist“, kommentiert Düsterhöft die wenig zufriedenstellenden Zahlen.
Der Staat habe die Zugänglichkeit zu geheimen und freien Wahlen für alle Menschen zu garantieren. „Hier erwarte ich deutlich mehr Kreativität und Mut, auch Wege einzuschlagen, welche vielleicht schwieriger sind und auch Geld kosten können.
Alternativen hätten in Turnhallen oder in Einkaufszentren gefunden werden können“, so der SPD-Politiker. Der Berliner Behindertenverband sieht das ganz ähnlich. „Wir sind doch sonst so kreativ in Berlin“, sagt Peter gegenüber rbb24. „Wieso nehmen wir nicht Schwimmhallen, Einkaufszentren, leerstehende Ladenflächen oder Bahnhöfe – also Orte, die sowieso barrierefrei sind?“ Für die nächsten Wahlen wünscht sich Peter, dass die Landeswahlleiterin auf die Betroffenen zukommt und nach Ideen fragt.
Datum: 22. September 2021, Text: Stefan Bartylla, Bild: Collage: iStock / Getty Images Plus / FooTToo / SeventyFour