Geschichte: Ein neues Buch schildert das verruchte Vergnügungsleben vor hundert Jahren.

Als der Bundestagsabgeordnete Volker Beck (B‘90/Die Grünen)  am Schöneberger Nollendorfplatz mit Drogen erwischt wurde, warf das nicht nur ein Schlaglicht auf das Doppelleben des Politikers, sondern auch auf eine Gegend, die als Szeneviertel längst in Vergessenheit geraten ist. Vor hundert Jahren war das anders – der „neue Westen“ galt in Sachen (nächtlicher) Freizeitgestaltung als angesagte Adresse. Jetzt lädt ein neues Buch zu einer Zeitreise ein, die  zuweilen auch an das pulsierende Berlin der Gegenwart erinnert.

Zukunft Berlins

Unter dem Titel „Weltstadtvergnügen. Berlin 1880-1930“ (Vandenhoeck & Ruprecht,  30 Euro. ISBN 978-3-525-30087-9) widmet sich ein sechsköpfiges Historikerteam auf 272 Seiten dabei vor allem der Frage, welche Rolle die Vergnügungskultur bei der mentalen Verarbeitung der neuen Lebensbedingungen spielte, die sich mit Berlins rasanter Entwicklung zur Metropole seit der Gründerzeit einstellten. Eine zentrale Rolle schreiben die Autoren dabei neben der legendären Friedrichstraße und der Mitte Berlins auch den westlichen Stadtteilen  Charlottenburg und Schöneberg zu. Die Geschichte des Vergnügungsviertels um Tauentzienstraße und Kudamm reicht bis in  die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Tatsächlich beschrieb schon 1912 ein Reiseführer  das Dreieck zwischen Nollendorfplatz, Zoologischer Garten und Viktoria-Luise-Platz als die Zukunft Berlins. 1908 hatte hier, in der Lutherstraße, etwa der legendäre Eispalast seine Pforten geöffnet. Und im Jahr 1920 wurde in der selben Straße mit dem gigantischen Varietétheater „Scala“ mit seinen 3.000 Plätzen ein weiteres Großformat der Unterhaltung errichtet. Das im selben Gebäude befindliche „Scala Casino“, das später den Namen Casanova erhalten sollte, war wiederum nur eines von zahlreichen Tanzlokalen in „Berlin West“.

Szenedroge Kokain

Bei dieser Entwicklung schwappte auch eine Begleiterscheinung des Vergnügungslebens in den Westen: Der Kokainkonsum, dem die Medizinhistorikerin Anne Gnausch ein Kapitel in dem Buch widmet. Gnausch zeichnet dieses Phänomen dabei lebhaft nach: So zog es zum Beispiel den Schriftsteller Carl Zuckmayer, der sich vor seinem literarischen Durchbruch als Kokainhändler über Wasser hielt, in den 1920er Jahren von der Friedrichstadt an den Wittenbergplatz, wo ein höherer Verdienst winkte. Keine zehn Jahre später galt der Ort sogar als Rauschgiftzentrale. Somit ist das Werk nicht nur ein lebendiger Beitrag zur Stadtgeschichte Berlins, sondern gewährt auch Einblicke in die dunklen Seiten des ausschweifenden Vergnügungslebens der „Goldenen Zwanziger“.

Philip Aubreville