Ludgera Selting (3.v.l.), die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofes, begründete die Einschätzung mit einer unzureichenden Vorbereitung der Wahl, die den rechtlichen Anforderungen voraussichtlich nicht genügt habe. Bild: Nils Michaelis
Ludgera Selting (3.v.l.), die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofes, begründete die Einschätzung mit einer unzureichenden Vorbereitung der Wahl, die den rechtlichen Anforderungen voraussichtlich nicht genügt habe. Bild: Nils Michaelis

Der Berliner Verfassungsgerichtshof zieht eine Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl vom September 2021 in Betracht. Ein erneuter Urnengang könnte die Gewichte in der Senatskoalition neu verteilen.

„Wir kennen nur die Spitze des Eisberges“, sagte Ludgera Selting, die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs, am vergangenen Mittwoch bei der ersten Verhandlung über Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) vom 26. September 2021.

Obwohl bei den zahllosen Pannen und Regelverstößen offenbar noch viel im Dunkeln liegt, kam das Gremium zu einer weitreichenden Einschätzung: Der Verfassungsgerichtshof neigt derzeit dazu, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den BVVen insgesamt für ungültig zu erklären. Demnach müssten diese Wahlen in ganz Berlin wiederholt werden.

Vorläufige Bewertung

Bei dieser Einschätzung handelt es sich um eine vorläufige Bewertung der Sach- und Rechtslage. Der Verfassungsgerichtshof hat seit März alle 2.256 Protokolle aus den Wahllokalen ausgewertet. Für eine endgültige Entscheidung haben die  Richter drei Monate. Bleibt es bei der bisherigen Einschätzung, müssten die Wahlen maximal drei Monate später, also im Frühjahr 2023, wiederholt werden.

Verhandelt wurden die Anträge der Senatsverwaltung für Inneres, der Satire-Partei DIE PARTEI, der AfD sowie der amtierende Wahlleiterin Ulrike Rockmann. Die Innenverwaltung fordert unter anderem, die Wahlen  in den Wahlkreisen Marzahn-Hellersdorf 1, Charlottenburg-Wilmersdorf 6 und Pankow 3 teilweise für ungültig zu erklären.

DIE PARTEI legt Einspruch gegen die Ergebnisse in 26 Wahlkreisen ein. Die AfD fordert eine komplette Wahlwiederholung, mit Ausnahme der in Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten. Rockmann hat beantragt, die Wahl in den Wahlkreisen Charlottenburg-Wilmersdorf 6 und Marzahn-Hellersdorf 1 für teilweise ungültig zu erklären.

Schlechte Vorbereitung

Ludgera Selting, die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofes, begründete die Einschätzung mit einer unzureichenden Vorbereitung der Wahl, die den rechtlichen Anforderungen voraussichtlich nicht genügt habe.

Selting: „Diese muss von der Landeswahlleitung so organisiert werden, dass jeder Wahlberechtigte am Wahltag die Möglichkeit hat, eine vollständige und gültige Stimme unter zumutbaren Bedingungen in Präsenz abzugeben.“

Stattdessen sei es zu unzumutbar langen Wartezeiten vor den Wahllokalen, zur zeitweisen Schließung von Wahllokalen und zur Austeilung von zu wenig oder falschen Stimmzetteln gekommen. Zudem habe ein Teil der Wähler die Stimme abgegeben, während erste Hochrechnungen in der Presse veröffentlicht wurden. 1.066 von 2.256 Wahllokalen seien nach 18 Uhr geöffnet gewesen. „Das war eine flächendeckende Verlängerung der Wahlzeit“, so Selting. Diese und viele andere Pannen seien mandatsrelevant.

„Wir kennen den Eisberg“

Rockmann sowie Vertreter der Senatsinnenverwaltung räumten während der Anhörung Fehler bei der Organisation und Durchführung der Wahl ein. Diese würden aber keine komplette Wahlwiederholung rechtfertigen. Sämtliche Pannen seien dokumentiert. „Wir kennen den Eisberg“, sagte Rockmann. Ein flächendeckendes Versagen habe es nicht gegeben.

Ulrich Karpenstein, der Anwalt der Innenverwaltung, forderte den Verfassungsgerichtshof auf, weitere Beweise vorzulegen, um seine Einschätzung zu untermauern. Vermutungen und Annahmen genügten nicht.

Zustimmung dagegen bei der AfD: Kristin Brinker, Landesvorsitzende und Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus, sprach während der mündlichen Verhandlung von einem „guten Tag für die Demkratie“. Jeder Bürger habe einen Anspruch auf verfassungskonforme Wahlen.

Senator lehnt Rücktritt ab

CDU-Generalsekretär Stefan Evers erklärte nach der Anhörung: „Die Deutlichkeit der Aussagen der Gerichtspräsidentin sind eine schallende Ohrfeige für den rot-grün-roten Senat. Wir gehen nicht davon aus, dass sich an der vorläufigen Einschätzung des Gerichts noch etwas ändert und stellen uns auf Neuwahlen ein, die wahrscheinlich im Frühjahr stattfinden werden.“

Evers forderte den Rücktritt von Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD). Dieser war zum Zeitpunkt der Wahl Innensenator und hatte die Rechtsaufsicht über die Landeswahlleitung. Geisel lehnte einen Rückzug aus dem Senat ab.

Wird die Abgeordnetenhauswahl im Frühjahr tatsächlich wiederholt, dürfte in der Landespolitik einiges in Bewegung geraten. Laut einer Umfrage von Infratest dimap kommt  die rot-grün-rote Senatskoalition nur noch auf eine Mehrheit von 51 Prozent.

SPD im Sinkflug

Die SPD der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey rutscht um drei Punkte auf 17 Prozent ab und wird nur noch drittstärkste Kraft. Als beliebteste Partei liegen die Grünen mit 22 Prozent der Stimmen knapp vor der CDU (21 Prozent). Demnach hätte die Umwelt- und Verkehrssenatorin sowie vormalige Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch gute Chancen, Franziska Giffey als Senatschefin abzulösen.

Text: Nils Michaelis