SOZIALES Die Sozialarbeiterin Elisabeth Deppermann über ihre Arbeit bei dem seit 2000 bestehenden gemeinnützigen Verein Straßenkinder e.V.
Frau Deppermann, wie sieht ein Arbeitstag bei Ihnen aus?
Neben der klassischen Straßensozialarbeit, bei der wir rausgehen und gucken, wo die Leute sind, haben wir eine Essensausgabe am Alexanderplatz und unsere Anlaufstelle in Friedrichshain, die wir das „Wohnzimmer der Straße“ nennen. Da können die Jugendlichen hinkommen, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen, Zeit zu verbringen und sich beraten zu lassen. Und je nachdem, wo was und wie viel zu tun ist, sieht jeder Tag ein bisschen anders aus.
Wie sieht ein „typischer“ Tag eines obdachlosen Jugendlichen aus?
In erster Linie kommt es darauf an, wo die jungen Menschen schlafen. Manche schlafen auf einer Platte, das ist ein Berliner Ausdruck für einen Platz, an dem viele andere auch schlafen, zum Beispiel im Zelt – dann fällt die Suche nach einem Schlafplatz nämlich weg. Dann geht es vor allem um Nahrungsbesorgung und Zeitvertreiben. Das kann in einer Tagesstätte wie der unseren sein, oder an öffentlichen Orten wie dem Alex. Wenn es aber keinen „konstanten“ Schlafplatz gibt, dann geht viel Zeit für eine Suche danach drauf.
Was sind denn die Haupt-Schlafplätze?
Man muss ja immer dazu sagen, dass es auch die verdeckte Wohnungslosigkeit gibt, also Menschen, die bei Freunden unterkommen, solange sie können. Irgendwann müssen sie dann in Notunterkünfte ausweichen. Sonst wird viel in Bahnhöfen oder unter Brücken geschlafen, einfach da, wo man vor Witterung geschützt ist.
Wie unterschiedlich oder einheitlich sind die Ursachen-Geschichten der Jugendlichen?
Es ist super individuell, aber natürlich gibt es Dinge, die sich durchziehen. Sehr oft hat es mit den Herkunftsfamilien zu tun: es gab Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch, vielleicht eine Suchtproblematik bei den Eltern oder eine psychische Erkrankung, Armut in der Familie, soziale Ausgrenzung, erschwerte Startbedingungen in Hinblick auf Bildungschancen, eigene psychische Erkrankungen, vielleicht Sucht … Was sich oft durchzieht, ist das Fehlen von stabilen sozialen Beziehungen. Wenn ein Kind oder Jugendlicher auf der Straße landet, treffen meistens mehrere dieser Faktoren zu.
Neben den psychischen Folgen, die ein Leben auf der Straße hat – wie steht es um die physische Gesundheit der Jugendlichen?
Das lässt sich nicht trennen. Also ebenjener Stress, dem die jungen Leute dauernd ausgesetzt sind, weil es täglich ums Überleben geht, führt zu körperlichen Problemen. Das eine bedingt das andere. Dass fehlende soziale Unterstützung ein enormes Risiko für die physische Gesundheit und die Sterblichkeit darstellt, ist immerhin statistisch erwiesen. Außerdem ist der Körper der obdachlosen Jugendlichen ja quasi dauerhaft Extremsituationen ausgesetzt: Unterernährung, Wetterereignisse, Hitze, Kälte.
Was sind die größten Gefahren der Straße und inwiefern sind sie geschlechtsspezifisch unterschiedlich?
Für Frauen ist sexualisierte Gewalt eine große Gefahr: Wenn sie bei jemandem aufgenommen werden, wird oft eine Gegenleistung verlangt. Aber auch Beschaffungskriminalität und Prostitution ist ein Thema. Aber Gewalt, also Gewalt von Nicht-Wohnungslosen gegenüber Wohnungslosen, ist für alle eine Gefahr sowie auch Drogen. Und im Winter ist es natürlich die Kälte.
Ist Drogenkonsum bei den meisten obdachlosen Jugendlichen nur eine Frage der Zeit?
Wahrscheinlich könnte man das so sagen, ja. Natürlich konsumieren nicht alle, die auf der Straße leben, aber je länger man auf der Straße lebt, desto größer wird die Gefahr, weil es so eine große Belastung ist. Es ist dann ja auch eine Form der Selbstmedikation.
Straßenkinder e.V. vermittelt ja auch viel an andere Ämter und begleitet die Jugendlichen zu Terminen. Wie erleben Sie diesen Kontakt?
Man erlebt beides. Es gibt sehr zugewandte Personen, die da arbeiten, worüber wir uns dann sehr freuen, weil das für die jungen Leute ein wertvolles und stärkendes Erlebnis ist. Aber leider erleben wir auch die andere Seite: unfreundliche Menschen, die den Jugendlichen das Gefühl geben, dass sie selbst schuld seien an ihrer Situation. Das verstärkt die Schamgefühle und das angekratzte Selbstvertrauen, worunter die Jugendlichen ohnehin leiden. Deswegen herrscht vonseiten der Jugendlichen eine große Angst vor solchen Terminen.
Wie oft haben erleben Sie, dass Jugendliche es von der Straße schaffen?
Es passiert, aber es ist sehr unterschiedlich, wie lange dieser Prozess dauert. Bei manchen geht es schneller, weil sie sehr früh beschließen, dieses Ziel zu erreichen und dafür die nötige Kraft haben. Andere brauchen Jahre dafür, weil sie dazwischen Rückschritte erleben. Für uns sind die kleinen Schritte, die dazugehören, auch schon Erfolge, deswegen gibt es uns für uns nicht den „einen großen Erfolg“, der daraus besteht, es von der Straße zu schaffen. Und es ist wirklich schön, diese kleinen Schritte mitzugehen und mitzugestalten. Das Wichtigste ist die Kontinuität in der Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen und dass sie wieder Selbstvertrauen erlangen können, daraus Hoffnung schöpfen und eine Perspektive sehen.
Gibt es für viele Jugendliche die Option „weg von der Straße“ gar nicht, weil sie da schon so lange sind und nicht mehr daran glauben?
Definitiv, es wurde zu viel Schlechtes erlebt, oder auch die Zeit dafür ist gar nicht da. Wenn man sich den ganzen Tag um Grundbedürfnisse kümmern muss, hat man weder Kraft noch Zeit, darüber nachzudenken. Aber trotzdem passiert es, dass Jugendliche vor uns sitzen, und explizit sagen, sie wollen runter von der Straße.
Wo gerät Ihr Verein strukturell an seine Grenzen?
Eines der größten Probleme ist, dass an den falschen Stellen gespart wird. Wir waren zum Glück nicht betroffen von den Haushaltskürzungen innerhalb der sozialen Infrastruktur – wir finanzieren uns zu 95 Prozent aus Spenden –, aber es wird ja überall eingekürzt, und Beratungsstellen müssen zum Teil schließen. Das Resultat ist dann, dass diejenigen darunter leiden, die eh schon am Rande der Gesellschaft stehen. Für mich ist das wirklich ein Rätsel. Wenn nicht in die Bedürftigsten investieren, in wen denn dann?
Das ist das alte Mysterium.
Ja, es ist wirklich ein Mysterium, aber es wird wahrscheinlich immer so bleiben, und das ist wirklich traurig.
Was würden Sie sich noch abgesehen von einer besseren Finanzierungslage wünschen?
Weniger Bürokratie! Es gibt zwar viele gute Angebote im sozialen Bereich in Deutschland, aber es wäre schön, wenn alles ein bisschen niedrigschwelliger und freundlicher gestaltet wäre. Denn am schönsten wäre es ja eigentlich, wenn es uns als Vermittler nicht bräuchte. Vermitteln ist ein großer Teil unserer Arbeit, und vieles verstehen selbst wir erstmal nicht. Anträge stellen, das ist in Deutschland einfach extrem kompliziert. Also ein lichterer Bürokratie-Dschungel, das wäre schön.
Interview: Marie Ladstätter