Eine Weihnachtsgeschichte von Ulf Teichert
Geschrieben für Frida, Emilia, Carli, Hedi, Benno, Carla und Jurij und alle anderen Kinder in Berlin
Die Geschichte zum Hören
Machen Sie es sich gemütlich: Unser Chefredakteur Ulf Teichert liest seine Weihnachtsgeschichte für Sie vor!
Als sich die erste Schneeflocke auf sein schwarzes Fell legte und nicht schmolz, rollte sich der kleine Kater noch fester zusammen. Er hatte keine Kraft mehr. Er fror und er hatte Hunger. Nachdem er von seinen Geschwistern getrennt worden war, hatte er die meiste Zeit hier verbracht und die Bewohner beobachtet. Offensichtlich teilten sich zwei große und zwei kleine Zweibeiner diesen Bau.
Vorhin hatten sie einen richtigen Baum hineingeschleppt, ihn mitten in den großen Raum gestellt, mit allerhand Glitzerzeug behängt und dabei lustige Geräusche von sich gegeben. „Diese Zweibeiner waren sooo ganz anders“, dachte der kleine Kater, bevor ihn die Erschöpfung wieder übermannte.
Vor den Zweibeinern, denen er davor begegnet war, hatte er Angst. Mit hartem Griff hatte ihn der eine am Nacken gepackt und zu seinen vier Schwestern in diese finstere Höhle geworfen. Fast noch schlimmer war, dass diese Höhle ständig geschüttelt wurde und er sich nirgendwo festkrallen konnte.
Die Kraft lässt nach
Als das Schütteln aufhörte, wurde er von einem grellen Licht geblendet. Überwältig von der plötzlichen Helligkeit, sah der kleine Kater wieder diese große, hart zupackende Hand auf sich zukommen. Panik überkam ihn und er biss so fest zu wie er nur konnte. Er spürte, wie sich das fremde Blut klebrig auf seine Zunge legte. Der Zweibeiner begann, seine Hand heftig zu schütteln. Irgendwann hatte der kleine Kater keine Kraft mehr und ließ los.
Werner, so heißt der Mann, in dessen Hand sich die kleine Katze verbissen hatte, sah fluchend zu, wie das Tier in hohem Bogen über eine hohe Mauer flog und in der Dunkelheit verschwand. „So ein Mistvieh“, schimpfte er.
Er und sein Kumpel Gregor hatten dem Ehepaar aus Berlin versprochen, ihm gegen gutes Geld ein paar Katzenjungen zu besorgen. Eines für jedes Kind, pünktlich zum Weihnachtsfest.
„Lass die Sucherei“, knurrte Gregor. „Wir liefern die vier Tiere ab und jut is. Der Kleene war eh nur Reserve.“ Schulterzuckend legte Werner die schwere Decke auf die Kiste mit den Katzen, knallte die Heckklappe zu und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Soll mir nur recht sein“, dachte er sich und blickte besorgt in den Himmel. „Wird bald schneien“, sagte Gregor und gab Gas.
Weiße Wölkchen
Als der kleine schwarze Kater zu sich kam, taten ihm alle Knochen weh. Er zitterte am ganzen Leib und sein Atem bildete weiße Wölkchen. Langsam reckte und streckte er sich. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war ein grelles Licht. Er setzte sich auf und wollte sein Fell putzen, da bemerkte er, wie durstig er war und wie sich etwas in ihm zusammenkrampfte. Der Hunger wurde immer schlimmer.
Er schaute sich um und entdeckte in einiger Entfernung die typischen Umrisse eines Zweibeiner-Baus, der sich dunkel gegen das kalt leuchtende Mondlicht abhob. Er erinnerte sich, dass er mit den Geschwistern und der Mutter in einem solchen Bau gelebt hatte und dass es schön warm war da drinnen und es immer zu fressen gab.
Vorsichtig tastete er sich durch das dichte Gebüsch. Schwere Wolken schoben sich vor den Mond. Doch der Kleine hatte schon entdeckt, wonach er Ausschau gehalten hatte. Auch da, wo er herkam, hatte immer an der Stelle ein Licht gebrannt, an der die Zweibeiner in ihren Bau hineingegangen waren.
Ein warmes Licht
Von Angst, Hunger, Durst und Kälte getrieben, rannte er auf das Licht zu. Und prallte mit voller Wucht auf ein unsichtbares Hindernis. Halb benommen, rappelte er sich wieder auf und begann, an der ebenso glatten wie eiskalten Wand zu kratzen. Das warme Licht war jetzt ganz nah. Aber unerreichbar.
„Hast du auch diese kleine schwarze Katze bemerkt, die seit heute Morgen auf der Terrasse saß?“ Martina war gerade dabei, den selbstgebackenen Stollen aufzuschneiden. Sie schüttelte den Kopf. „Sie sah so traurig aus“, sagte Frank und setzte sich mit einem Seufzer an den Küchentresen.
Martina musste schmunzeln: „Seit wann können Katzen traurig gucken? Dann müssten sie ja auch glücklich lächeln können?“ In diesem Moment stürmten Mia und Stefan, die sechsjährigen Zwillinge, in die Küche. „Habt Ihr auch die kleine schwarze Katze gesehen?“, fragten sie im Chor. „Sie hat uns die ganze Zeit beim Weihnachtsbaumschmücken zugeschaut“, erzählte Stefan ganz aufgeregt. „Und sie sah wirklich total traurig aus“, sagte Mia voller Mitgefühl.
Gleich kommt der Weihnachtsmann
„Traurige Katze, alles klar! So, und jetzt alle raus hier und umziehen“, sagte Martina. „In einer halben Stunde kommen Oma und Opa und gleich danach will der Weihnachtsmann loslegen. Falls er es sich wegen der traurigen Katze nicht noch einmal anders überlegt hat.“
Martina wandte sich wieder ihrem Stollen zu. Mehr aus den Augenwinkeln heraus registrierte sie eine leichte Bewegung auf der Terrasse. Sie legte das Messer zur Seite und näherte sich langsam der Tür.
Tatsächlich! Unter einer leichten Schneeschicht konnte sie ein schwarzes, zitterndes Knäuel erkennen. Vorsichtig schob sie die Glastür zur Seite und griff beherzt dort zu.
„Frank“, rief sie in den Flur. „Hol doch bitte mal den großen Kartoffelkorb vom Boden und die alte Wärmedecke aus dem Keller.“
Tiefer Schlaf
Der kleine schwarze Kater hatte die Hand zu spät kommen sehen. Und eigentlich war es ihm auch egal. Nichts konnte schlimmer sein als die Kälte da draußen. Und so ließ er sich widerstandslos in den Bau der Zweibeiner tragen, trank von dem frischen Wasser, das man ihm gab, fraß etwas und fiel in einen tiefen Schlaf. Als er wach wurde, war ihm wohlig warm.
Er lag auf dem Schoß des Zweibeiners, der ihn aus der Kälte gerettet hatte. Sanft wurde er hinter den Ohren gekrault. Der kleine Kater öffnete die Augen. Ganz in der Nähe saßen die Zweibeiner, die er schon gesehen hatte, und es waren sogar noch andere dazu gekommen.
Einer von ihnen – er hatte schwere Stiefel an den Füßen und viele Haaren im Gesicht – stand mitten im Raum und erzählte mit tiefer Stimme etwas von einem hellen Stern am Himmel, einem kleinen Zweibeiner im Stall und Frieden auf Erden.
Glücklicher Kater
„Habt ihr eigentlich schon einen Namen für Euren neuen Mitbewohner?“, fragte Martinas Mutter. „Na klar“, sagte sie. „Er heißt ab sofort Felix.“
Wenn Martina jetzt genau hingeschaut hätte, sie hätte eine kleine schwarze Katze glücklich lächeln sehen.