
Kolumne: Der Journalist und Publizist Roland Tichy über moderne „römische Streitwagen“ und die Gefahren der neuen urbanen Mobilität.
Also, ich wollte eine Einbahnstraße überqueren. Blick nach rechts, woher der Verkehr kommt – frei, Schritt auf die Straße. Und da wäre es fast passiert. Auf dem Fahrradweg, der auch gegen die Einbahnstraße befahren werden darf, donnerte ein römischer Streitwagen auf mich zu, mit Spießen und Keulen mörderisch bewaffnet. Nur ein Ben-Hur-Sprung rettet mich, ich rollte über die rechte Schulter ab, auf die Fahrbahn. Weitgehend unverletzt. Ein Auto hielt mit quietschenden Reifen. Der Streitwagen war längst weg.
Es war ein Paket-Lastenfahrrad eines globalen Logistikunternehmens. Gewicht mit Fahrer ungefähr 800 kg; das entspricht einem kleinen PKW, sagen wir: so einem Fiat Panda. Der hat eine runde Schnauze, nicht nur weil er so heißt wie das knubbelige Bärchen, sondern weil beim Zusammenstoß mit Fußgängern diese über Kühler, Haube und Fortscheibe wegrollen, statt von der Wucht des Fahrzeugs zermatscht werden. Sogar die Türgriffe sind versenkt, weil hervorstehende Teile Verletzungsgefahr bedeuten; der Seitenspiegel ist sanft gerundet wie ein, nun ja: Baby-Popo? Honigmelone?
Unterwegs ohne Nummernschild
Das Logistik-Lastenfahrrad nimmt nicht so viel Rücksicht. Der Lenker – ein mörderischer Spieß. Dazu abstehende Griffe für die Bremsen, eine Glocke, Kabel, Stangen, Fußrasten; alles zusammen eine multiple Fabrikationsanlage zur Herstellung von Fußgänger-Schaschlik. Die Maschine fährt so schnell wie ein PKW, der Elektromotor macht‘s möglich. Nur vom Nummernschild geht keine Gefahr aus, es gibt nämlich keins.
Das also ist die neue urbane Mobilität: die Rückkehr des Streitwagens, gerne gegen die Einbahnstraße, auf Fahrradwegen und zu oft auf dem Gehweg, alles ist möglich. Es ist ja nur ein Fahrrad. Andere Lastenfahrräder beobachte ich, die vorne in einem Korb aus Pappe Kinder transportieren. Natürlich nicht angeschnallt, kein Kindersitz. Beim Zusammenstoß wäre nicht ich das Opfer, sondern die Babys, die über die Straße geschleudert werden.
Fahrradunfälle mit schweren Verletzungen haben sich verzehnfacht. Die neue Freiheit ist elektrisch; Mopeds, Schwalben und Vespas, allesamt nicht schneller, dürfen nicht, was ein E-Bike darf. Man nennt es Freiheit, Fortschritt, Deregulierung. Nein, ich will nicht meckern. Schön, dass die Autos verdrängt werden aus der Stadt; aufgespießt ist auch schön und ein Leberhaken erfreulich.
Oder etwa nicht?
Text: Roland Tichy